Die Wohngemeinschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Auch Erkrankungen des Gehirns werden heute mit den Mikroorganismen in unserem Verdauungstrakt in Verbindung gebracht.

Viele Forscher sehen heute die Grenzen verschwimmen, was einen Menschen ausmacht. Es sind offensichtlich nicht nur die menschlichen Zellen mit ihrer artspezifischen DNA.

Es hat durchaus das Potenzial zur "narzisstischen Kränkung": ein Begriff, mit dem Sigmund Freud wissenschaftliche Entdeckungen bezeichnet hat, die das Selbstverständnis des Menschen fundamental in Frage zu stellen vermögen. Hier geht es allerdings nicht um die Annahme, dass der Mensch "nicht Herr sei in seinem eigenen Haus", weil ein großer Teil seines Seelenlebens im Unbewussten verborgen liege. Vielmehr geht es darum, dass der Mensch nicht allein ist in seinem Haus -weil er dieses mit jeder Menge Mitbewohner teilen muss. Noch dazu Mitbewohner, die in der "Wohngemeinschaft Mensch" nicht nur als stumme Untermieter geduldet sind, sondern bei unserem Wohlbefinden auch ein kräftiges Wörtchen mitzureden haben. Und das, obwohl sie zu den kleinsten Lebewesen gehören: Bakterien, Viren, Pilze und andere Mikroben erfüllen wichtige Aufgaben für unseren Organismus. Und immer mehr deutet darauf hin, dass sie dabei über Gesundheit und Krankheit entscheiden können.

So gibt es Hinweise, dass mikrobielle Veränderungen etwa für die Entwicklung von Darmkrankheiten, Fettleibigkeit oder Allergien mitverantwortlich sind. Viele Krankheiten werden heute in einem neuen Licht gesehen, da nun auch die Rolle der Mikroben beleuchtet wird. Und viele biologisch orientierte Forscher sehen die Grenzen verschwimmen, was denn nun einen Menschen ausmacht. Es sind offensichtlich nicht nur die menschlichen Zellen mit ihrer artspezifischen DNA. Sie repräsentieren nur 43 Prozent aller Zellen unseres Körpers und sind somit in der Minderheit. Der Rest sind die nicht-menschlichen Zellen der Mikroben. Auf genetischer Ebene ist der Unterschied noch krasser: 20.000 menschliche Gene stehen zwei bis 20 Millionen nichtmenschlichen Genen gegenüber. Kein Wunder, dass Wissenschafter bereits neue Konzepte für diese Wohngemeinschaft diskutieren: zum Beispiel "Meta-Organismus" oder "Meta-Genom". Sie sollen zum Ausdruck bringen, dass man Menschen, Tiere und Pflanzen nie losgelöst von ihren mikrobiellen Mitbewohnern (Mikrobiom) betrachten kann. Denn Mensch und Mikrobiom gehen gemeinsam durchs Leben.

Pikant sind jüngste Erkenntnisse, wie die Darmbakterien das Gehirn und somit auch unsere psychische Gesundheit beeinflussen können. Dass unser Gefühlsleben Auswirkungen auf den Verdauungstrakt hat, ist dem Volksmund seit Jahrhunderten bekannt ("Das schlägt sich auf den Magen"). Dass aber auch umgekehrt die Situation im Verdauungssystem auf die Abläufe in unserem Gehirn wirken kann, ist eine ziemlich neue Einsicht.

Darmflora und Depression

Das würde bedeuten, dass die Darmflora selbst in unsere Gemüts-und Geistesverfassungen hineinspielt. Sogar Krankheiten wie Demenz, Autismus und Parkinson werden heute mit den kleinen Lebewesen im Verdauungstrakt assoziiert. Auch bei der Entstehung von Depressionen könnte die Darmflora eine Rolle spielen.

So wurde das Mikrobiom depressiver Patienten in Ratten transplantiert. Und tatsächlich wurde mit den Bakterien auch die Depression übertragen: Die Ratten verloren das Interesse an dem Zuckerwasser, für das sie sich sonst so begeisterten. Ein ähnliches Ergebnis zeigte eine aktuelle Studie, bei der die Darmbakterien einer depressiven und einer gesunden Studienteilnehmerin auf Mäuse übertragen wurden. Jene Tiere, welche die Bakterien der depressiven Patientin erhielten, zeigten das typische Muster einer Depression: Weiterer Zündstoff für einen neuen Ansatz, der die wissenschaftliche Community derzeit in helle Aufregung versetzt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung