Dieser Faden Hoffnung …

Werbung
Werbung
Werbung

In der allgemeinen Wahrnehmung steht die Kinder- und Jugendliteratur jener für Erwachsene immer noch nach. Für Renate Welsh, die vielfach preisgekrönte Kinderbuchautorin, liegt die Schwierigkeit der Kinderliteratur gerade in ihrer Einfachheit. Im FURCHE-Gespräch schildert sie, wieso.

Die Furche: Frau Welsh, Ihr erstes Kinderbuch erschien 1969. Wie sehr hat sich Kinderliteratur seitdem verändert?

Renate Welsh: Sie hat sich ungeheuer ausgeweitet. Damals musste man ja immer die Frage stellen: Darf man das Kindern zumuten? Inzwischen hat sich doch die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Realität Kindern ganz andere Dinge zumutet, als ihnen die "böseste" Kinderliteratur jemals zumuten könnte. Die Frage heute ist nicht mehr Was?, sondern Wie?

Die Furche: Kennt die Kinderliteratur heute noch Tabus?

Welsh: Das einzige Tabu, das ich jedenfalls für mich sehen würde, ist, dass ich nicht Kindern meine ganze Verzweiflung überstülpen darf. Das hieße auf schmalen Schultern eine Last abladen, die selbst Herkules zu groß ist - und das finde ich schlicht unanständig. Ich glaube, es muss immer dieser Faden Hoffnung bleiben - auch wenn er manchmal schwer zu finden ist. Schwindeln ist dabei ganz sicher nicht erlaubt.

Die Furche: Hat sich in der Zeit, seit Sie zu schreiben begonnen haben, auch Ihr persönliches Verständnis von Kinderliteratur verändert?

Welsh: Ja und zwar insofern, dass ich es nicht mehr wagen würde, ein Jugendbuch zu schreiben. Die Welt heutiger Jugendlicher ist eine andere Welt mit anderen Koordinaten und anderen Tabus. Gleichzeitig fühle ich mich Jugendlichen verwandt in der Sinnsuche.

Die Furche: Ist Jugend, so wie sie sich heute darstellt, für Sie begreifbar?

Welsh: Bei vielen Dingen habe ich das Gefühl, dass ich sie einfach nicht verstehe. Der völlig andere Umgang mit Sprache zum Beispiel - wobei ich nicht sicher bin, ob Jugendsprache nicht ein Kunstprodukt ist. Wenn man mit Jugendlichen redet, merkt man, dass sie innerhalb kürzester Zeit von dieser Stakkatosprache abkommen und dann doch auf der Suche nach dem Wort sind - dem eigentlich richtigen Wort.

Die Furche: In der Kinderliteratur gilt das Prinzip der Einfachheit. Was ist damit gemeint?

Welsh: Gemeint muss damit Einfachheit sein, die nichts mit Simplizität zu tun hat und auch nichts mit Reduktion. Diese Einfachheit ist das Ergebnis eines langen Prozesses und darf keineswegs komplexe Zusammenhänge verleugnen.

Die Furche: Wie gelingt es, diese Einfachheit herzustellen?

Welsh: Für mich ist das eine Frage hundertmaliger Überarbeitung. Ich frage mich immer wieder: Muss das sein oder kann man das weglassen? Ich bilde mir ein, dass alles das, was man einmal formuliert und weggelassen hat, als eine Art Farbtupfer im Text drinnen bleibt. Ein japanischer Germanist hat mir einmal unterstellt, dass ich furchtbar primitiv schreiben würde. Er hat meinen Kinderroman "Drachenflügel" von seinen Studenten durchzählen lassen und es gibt darin keinen einzigen Satz mit mehr als 13 Wörtern. Und da habe ich gedacht: mein Gott, wenn Du wüsstest, wie viel Arbeit das war!

Die Furche: Ein Stilprinzip Ihrer Romane ist das Zusammenspiel aus genauem Hinsehen einerseits und bewusst gesetzten Leerstellen andererseits.

Welsh: Ja. Absolut. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass ich wirklich glaube, die Leerstellen sind das, wo Literatur Wirkung haben kann. Ich glaube nicht, dass Literatur Wirkung hat in dem, was sie sagt, sondern in dem, was sie auslöst. Und dazu sind die Leerstellen notwendig.

Die Furche: Zu Ihrer Sprache fällt mir der Begriff "zärtlich" ein.

Welsh: Ich halte Zärtlichkeit für etwas ungeheuer Wichtiges. Ich denke, dass Genauigkeit nicht unbedingt zersetzend sein muss, wenn sie noch genauer wird, dann kann sie zärtlich werden.

Die Furche: Fremdheit ist in vielen Ihrer Texte ein wichtiges Thema. Was umfasst der Begriff Fremdheit für Sie?

Welsh: Das ist schwierig. Es hat sicher zu tun mit einem Anderssein als das, was man als normal empfindet. Ich glaube, dass Fremdheit eine Erfahrung ist, die heute mehr Menschen prägt als in Zeiten, wo die Position des Einzelnen definiert war - gegenüber der Gesellschaft, dem Glauben, dem Staat. Ich glaube sehr wohl, dass Fremdheit bis zu einem gewissen Grad eine allgemeine Erfahrung ist. Und doch ist es nicht möglich, sie allgemein zu definieren.

Die Furche: Ihr Roman "Ülkü, das fremde Mädchen" erschien 1973. Es geht in dieser in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion erzählten Geschichte eines Gastarbeiterkinds sehr zentral um die Frage nach einer gemeinsamen Sprache? Wie wichtig ist eine solche gemeinsame Sprache?

Welsh: Ich habe das Gefühl, es gibt eine sprachlose Kommunikation, die komischerweise dann am besten funktioniert, wenn man mit einer Sprache konfrontiert ist, von der man kein Wort versteht. Weil man dann mit viel größerer Aufmerksamkeit auf nonverbale Signale lauert. Ich glaube, am trennendsten ist eine Rumpfsprache. Man glaubt, man kennt ein paar gemeinsame Vokabeln, aber die funktionieren eigentlich nicht, weil man keine Möglichkeit hat zu erfahren, was sie für den anderen bedeuten.

Daher glaube ich, dass nonverbale Kommunikation in einer entwickelten Industriegesellschaft wie der unseren nicht funktioniert, dass es also notwendig ist, dass Sprache in Besitz genommen wird, erobert wird.

Die Furche: Wie wichtig sind dafür die muttersprachlichen Voraussetzungen?

Welsh: Es ist so gut wie unmöglich, eine fremde Sprache wirklich zu lernen und zu können, wenn du nicht deine Muttersprache wirklich kannst. Die Bereitschaft, dich mit Dingen wie Grammatik zu befassen steigt, wenn man schon eine elaborierte Sprache hat. Das erklärt auch, warum die zweite und dritte Generation manchmal noch immer nicht Deutsch kann. Nicht, weil die dümmer sind, sondern weil die eigene Muttersprache nie wirklich zum Besitz wurde.

Ich glaube jedoch, dass ein Zusammenleben nur dann möglich ist, wenn die Mehrheitssprache die Minderheitensprache so respektiert, dass sie als wirkliche Sprache und nicht nur als Signalmöglichkeit anerkannt wird. Erst die Achtung vor der Muttersprache gibt die Möglichkeit, die fremde Sprache wirklich zu lernen. Das geht nur dann, wenn die Muttersprache nicht zu einer Dienstbotensprache degradiert wird.

Die Furche: Würde Ülkü heute Arigona heißen?

Welsh: Die Frage gefällt mir, vielleicht gerade weil sie schwierig ist. Arigona setzt sich weit mehr gegen die Opferrolle zur Wehr als das Ülkü für möglich gehalten hätte. Ich fürchte, es gibt heute noch viele Mädchen und Frauen, die Willkür mit Schicksal verwechseln. Übrigens: Arigona ist natürlich in jeder Hinsicht ein Vorzeigemädchen, ich würde mir wünschen, dass die mediale Zuwendung, die sie bekommt, auch für weniger perfekte Menschenkinder eine Bresche in die Mauer der Vorurteile schlägt, hinter denen wir genau so eingesperrt sind wie "jene" ausgesperrt werden.

Das Gespräch führte Heidi Lexe.

Das Leben buchstabieren

Viele der Werke von Renate Welsh, insbesondere ihr in der österreichischen Zwischenkriegszeit angesiedelter und vielfach preisgekrönter Jugendroman "Johanna" (1979), gehen den Lebensspuren von Menschen nach, deren Geschichte in Geschichten sichtbar gemacht wird. Renate Welsh hat Bücher in allen kinder- und jugendliterarischen Sparten veröffentlicht und zählt mit ihrer Erzählung "Das Vamperl" zu den erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen des deutschsprachigen Raums. 1995 wurde sie für ihr Gesamtwerk mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet, kurz zuvor erschien mit "Das Lufthaus" ihr erster Roman für Erwachsene. Große Aufmerksamkeit erlangte sie 2002 mit ihrem autobiografischen Kinderroman "Dieda oder Das fremde Kind", für den sie auch mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Anlässlich ihres 70. Geburtstages wurde Renate Welsh von der STUBE - Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur - sowie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung eingeladen, an der Universität Wien eine Festvorlesung über ihr Verständnis von (Kinder-)Literatur zu halten. Die renommierte Autorin wird dabei über das aus ihrer Sicht so wichtige Ineinandergreifen von Leben und Schreiben sprechen. Die Festvorlesung "Das Leben buchstabieren" findet in Kooperation mit der Furche am Dienstag, den 27. November um 17 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien statt.

Info unter www.stube.at

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung