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Du sollst nicht töten

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„Du sollst nicht töten" und „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" scheint viel zuvielen unter den heutigen Kraftfahrern nur allzu wenig zu sagen, ja, man wäre im Hinblick auf das moderne Verkehrsgeschehen schon froh, wenn die Kraftfahrer in entsprechender Weise wenigstens an sich selbst denken möchten. Aber auch das tun sie nicht. Dabei würde bei einiger Eigenliebe vorsichtiger gefahren werden, denn bei einem Unfall, den man selbst verursacht, kommt man vor allem einmal selbst „zu Schaden", in welcher Form immer das geschehen mag. Mit dem Mangel an Religiosität fehlt unserer Zeit auch die Achtung vor der Gesundheit und dem Leben. Ethische und religiöse Einstellung sollte vor den Erscheinungen des modernen Lebens, auch vor dem Lärm der Straße, nicht das Feld räumen. Ihr Fehlen ist nicht zuletzt an dem stetigen Anwachsen der Gefahr im Straßenverkehr mitbeteiligt, und es sollte daher niemandem merkwürdig erscheinen, wenn sich auch die Kirche, der einfache Priester in die Verkehrserziehung einschalten.

Der „moderne“ Mensch ist in vielem noch gar nicht so modern, wie es seinen technischen Attributen nach den Anschein hat. Es steht außer Zweifel, daß er dem heutigen Verkehrsgeschehen weder geistig noch seelisch — das heißt charakterlich — gewachsen ist und in seine neue Rolle erst hineinwachsen, mit ihr wachsen muß. Es gibt Fahrer, die technisch auf der Höhe und von diesen ihren Kenntnissen so eingenommen sind, daß sie auf die notwendige Vorsicht oder aber auch Rücksicht oder auf beides vergessen. Andere wieder bewältigen einfach die, vor und neben ihnen mit großer Geschwindigkeit wechselnden Situationen nicht. Es gelingt ihnen nicht, so rasch zu reagieren, wie es eigentlich erforderlich wäre. Sie wählen daher die langsame Fahrweise und das vorsichtige Abwägen. Dennoch aber ist es meist nur Glück, wenn sie heil davonkommen. Und das Tragische daran ist, daß sie das gar nicht wissen. Der wirklich gute Fahrer, der sämtliche Faktoren richtig gegeneinander abwägt und einschätzt, ist relativ selten. aber auch er ist durch das Unvermögen der anderen Gefahren ausgesetzt.

Es wird noch lange dauern, bis sich der Mensch seinen technischen Hilfsmitteln voll gewachsen erweisen wird. Bis dahin bleibt ihm nur eines: Vernunft ebenso wie Rücksicht zu üben. Rücksicht nehmen heißt im Straßenverkehr, fallweise auf sein gutes Recht um der Vernunft willen zu verzichten. Konkret heißt das, man erzwingt nicht den Rechtsvorrang, sondern läßt in einer nicht allen Verkehrsteilnehmern völlig klaren Situation auch .als Rechtskommender ruhig dem anderen Fahrer die Vorfahrt, denn in einem Wagen kann man das Recht dem anderen Wagen gegenüber nur schwer verteidigen. Auch mit Selbstbewußtsein oder Konsequenz wird man nichts ausrichten, einzig und allein — mit Klugheit. Die amerikanischen Verkehrsbehörden zeigten seinerzeit ihren Schützlingen schwer havarierte Fahrzeuge, die alle mit einem Schild„Mein Besitzer hatte Vorfahrt!“ versehen waren. Aber nicht nur bezüglich der Vorfahrt sind Rücksicht und vernünftige Haltung die einzige Sicherheit, die die Straße heute zu bieten hat, sondern in fast allen Situationen.

Nicht immer aber reichen Rücksicht und Vernunft aus. Fahren ist heute mitunter auch mit einer Gewissensfrage verbunden. Es gibt einen Mord, der gesetzlich entweder überhaupt nicht oder nur sehr schwer zu ahnden ist, den Mord auf der Straße. Wir wollen nicht bestreiten, daß es Verkehrsunfälle gibt, die vielleicht wirklich unvermeidlich sind, aber sie sind außerordentlich selten. Die meisten Verkehrsunfälle sind immer noch auf das sogenannte „menschliche Versagen" zurückzuführen und wären daher vermeidbar. Betrachtet man sich dieses menschliche Versagen näher, dann kommt man zu der traurigen Erkenntnis, daß sich dahinter die minderwertigste charakterliche Einstellung bis zur unvermeidlichen Fehlleistung verbirgt und ein außerordentlich großes Gebiet umspannt Genau genommen, ist es ebenso ein menschliches Versagen, wenn jemand betrunken in rasendem Tempo in Passanten fährt, wie wenn durch plötzliche starke Uebelkeit des Lenkers einer von den dann wirklich unvermeidlichen Verkehrsunfällen entsteht. Der verantwortungsbewußte Fahrer wird deshalb stets so fahren, daß er auch nach einem Unfall noch immer mit ruhigem Gewissen vor sich und der Welt die Ueberzeugung behalten kann, daß dieser Unfall von seiner Seite nicht zu vermeiden war.

Hier kommt es natürlich auch auf das- Gewissen selbst an. Das Wirtschaftsleben mit seinem steten Kampf und dessen oft recht zweifelhaften Regeln hat vielfach eine Gewissensverhärtung mit sich gebracht, die sich notgedrungen nicht nur auf das Wirtschaftsleben selbst beschränkt, sondern auch auf die ganze Mentalitätdes modernen Menschen überzugreifen droht beziehungsweise übergegriffen hat. Sie findet sichtlich auch im Verkehrsgeschehen ihren katastrophalen Niederschlag. Hier wird der Gegner mitunter kampfunfähig gemacht, und es ist sein Glück, wenn er dennoch wieder auf die Beine kommt. Auf der Straße aber läßt der „Rivale“ sein Blut, und nur allzu oft für immer.

Die anderen Fahrer aber stellen trotz der bisherigen Erfolglosigkeit aller Verkehrserziehungsaktionen jenes Gros dar, das von der richtig durchgeführten Verkehrserziehung letzten Endes wirklich profitieren wird und bei dem sie auf fruchtbaren Boden fällt. Das Kuratorium für Verkehrssicherheit und mit ihm der OeAMTC sowie die Verkehrswacht sind heute unablässig bemüht, den richtigen Weg zu finden, um den Kraftfahrer anzusprechen. Erfreulicherweise sind wir heute aus dem Stadium des Debattierens heraus und können feststellen, daß bereits recht fruchtbare Arbeit geleistet wird. Der Technische Dienst des OeAMTC führt ständig kostenlos Wagenüberprüfungen durch und hilft dadurch mit, die Fahrzeuge stets in verkehrstüchtigem Zustand zu erhalten und rein mechanische Fehlerquellen zu beseitigen. Das im Rahmen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit gegründete verkehrspsychologische Institut, das mit modernsten Prüfgeräten ausgestattet ist, sucht demgegenüber die „Materialfehler“ am Menschen selbst herauszulösen und darzustellen, indem es den Fahrer auf seine Verkehrstüchtigkeit testet und Mängel feststellt, die ihm die Möglichkeit geben, sich innerhalb seiner Leistungsgrenzen zu bewegen. Vielfach ist allein die Kenntnis der eigenen Leistungsgrenze schon gleichbedeutend nit einer wesentlichen Hebung der Sicherheit. Dabei ist durchaus nicht gesagt, daß der Fahrer mit dem besseren Reaktionsvermögen der unfallsicherere ist, während jener mit der „langen Leitung“ von vornherein der verkehrsunsicherere Fahrer sein muß. Wesentlich ist in beiden Fällen nur, daß beide Kraftfahrer ihre Leistungsgrenzen kennen und sie nicht überschreiten. Es kann also der Fall eintreten, daß der Fahrer mit der zwar „langen Leitung“, der jedoch vorsichtig, anständig und vernünftig fährt, der sicherere und verläßlichere ist. Praktisch besteht hier nur eine Geschwindigkeitsdifferenz im Denkvorgang. Kennt man seine Leistungsfähigkeit und hält man sich streng daran, dann ist alles in Ordnung und man kann als vollwertiger Straßenbenützer angesprochen werden. Ein liebel unserer Zeit ist die nervliche Ueberbelastung des Menschen. Leider gibt es nun Fahrer — und es sind nicht einmal wenige —, die glauben, sie könnten eine Ueberbeanspruchung durch eine weitere Erhöhung der Spannung kompensieren bzw. abreagieren. Eine Reihe von Fahrzeugbenützern gibt vor, die nervliche Ueberreizung durch überhöhte Fahrgeschwindigkeit, riskantes Fahren und Bravourleistungen am Lenkrad loswerden zu können. Ist es aber nicht natürlicher, überspannte Nerven durcM echte Entspannung und Selbstbeherrschung einzurenken? Ein Fahrzeug, das stets den ganzen Menschen erfordert, kann niemals zu einem therapeutischen Gerät werden, und der Straßenverkehr ist keine klinische Vorrichtung für Nervenkranke. Auch die meist mit vernünftigen Gründen garnierte Ausrede, man müsse unbedingt innerhalb dieser oder jener Zeit von A nach B gelangen, kann im Interesse aller nicht gelten gelassen werden. In den meisten Fällen wird es sich nämlich zeigen, daß genügend Zeit gewesen wäre, eine solche Fahrt rechtzeitig anzutreten, um vernünftig fahren zu können. Ein Zeitgewinn von einer halben Stunde oder gar nur Minuten — nur der Fachmann weiß, um wieviel mehr hier riskiert werden muß, um auf einer auch relativ großen Strecke Minuten zu schinden — kann niemals als Entschuldigung für nie wieder gutzumachende Fehler oder auch nur das Riskieren dieser Fehler anerkannt werden.

Der moderne Straßenverkehr gliedert sich wohl in zahlreiche Faktoren, die einzeln zu erforschen und darzulegen die Aufgabe jeder künftigen Verkehrserziehung sein wird, denn der in der Vielzahl gedankenlose Mensch unserer Zeit scheut wie vieles andere so auch die Ueberlegung, welche Erscheinung der Verkehr im Grunde darstellt. Ob aber nun mit oder ohne Ueberlegung, die christliche Haltung würde genügen, um dem modernen Menschen auch hier den für alle gangbarsten Weg zu weisen.

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