Ein haariges Grenzgebiet

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Autor P.J. Blumenthal räumt auf mit dem schwärmerischen Idealbild vom unschuldigen Naturkind, das sein Glück unter den Tieren gefunden hat.

Im Indien des 19. Jahrhunderts war es gar nicht so außergewöhnlich, wenn von Kindern die Rede war, die mit Wölfen in der Wildnis gelebt hätten. So berichtete ein dort stationierter britischer Beamter, Sir William Henry Sleeman, in seinen 1858 herausgegebenen "Memoiren" gleich von sechs indischen Wolfskindern: "Wölfe sind in der Umgebung von Sultanpur zahlreich, vor allem am Ufer des Gumpi-Flusses, der in die Schluchten mündet. Viele Kinder werden in den Städten, Dörfern und Zeltlagern von ihnen entführt. Diese Wölfe zu fangen ist äußerst schwierig. Kaum einer unter der Hindu-Bevölkerung macht den Versuch, sie zu jagen oder gar zu töten." Auch ein weiterer Beamter in der Gegend erzählte damals aufgeregt von solchen Entführungen - als Augenzeuge und Chronist. Hunderte von Kindern verschwinden jährlich auf diese Weise, schätzte Hercules Grey Ross. Und da Wölfe ihre Beute lebend fangen und in ihre Höhle bringen, wäre es gut möglich, dass eine Wölfin manchmal auch mütterliche Gefühle auf ein hilfloses Menschenkind übertragen hätte.

Kaum verwunderlich also, dass ein indisches Wolfskind auch in die literarische Fantasie jener Zeit eingesickert ist. In den beiden Bänden des "Dschungelbuchs" (1894/95) erzählte ein englischer Autor die fiktive Geschichte eines Findelkinds, das im dichten Wald von einem Wolfsrudel großgezogen wird. Sie machte den Kolonialschriftsteller Rudyard Kipling weltberühmt. Der kleine Mogli erlebt im "Dschungelbuch" viele Abenteuer mit seinen tierischen Freunden und Feinden -doch irgendwann muss er sich der Tatsache stellen, ein Mensch und kein Tier zu sein. Kipling machte das Kind, das unter die Tiere geraten war, zu einem Symbol der Tugend und Naturverbundenheit. Und seine Geschichte fasziniert auch heute noch; im Oktober kommt sie als Abenteuerfilm in die Kinos (USA 2018, Warner Bros).

"Edler Wilder" oder "Forstteufel"?

Aber ist es tatsächlich möglich, dass ein Kind mit Wölfen aufwächst? Auch wenn ein solcher artfremder Bund nicht gänzlich auszuschließen ist, haben Wissenschafter wichtige Gegenargumente ins Treffen geführt: Eine Wölfin gibt nur zwei Monate lang Milch, und mit dem Ende der Stillzeit nimmt wohl auch der Mutterinstinkt schlagartig ab. Der Verzehr von Wolfsmilch ist für einen menschlichen Säugling lebensgefährlich, und auch die gewöhnliche Welpennahrung könnte ein Menschenbaby kaum bewältigen. Zudem hat eine Wölfin in freier Wildbahn eine durchschnittliche Lebenserwartung von rund acht Jahren. Ein Mogli würde somit rasch zu einem Waisenwolfskind werden -und zu einer begehrten Mahlzeit für andere Wölfe.

"Indien ist schon lange die Heimat vieler falscher Wolfskinder", schreibt P.J. Blumenthal in seinem Buch "Kaspar Hausers Geschwister", in dem er sich auf die Suche nach dem "wilden Menschen" begibt. "Man nimmt diese Geschichten aber gern auf, weil man glauben will, dass es tatsächlich Kinder gibt, die unter den Tieren in vollkommener Harmonie mit der Natur leben oder gelebt haben." Der amerikanische Wissenschaftsautor hat seinem Werk nun in der zweiten, überarbeiteten und stark erweiterten Auflage weitere Berichte aus jüngster Zeit hinzugefügt. Mit über 100 Fällen aus den letzten 1500 Jahren ist es die bisher umfangreichste Zusammenstellung auf diesem Gebiet. Und es sind nicht nur Wölfe, in deren Gesellschaft wilde Menschen laut historischen Berichten gelebt haben, sondern auch Bären, Schafe, Schweine, Hunde, Leoparden, Schakale, Gazellen, Tiger oder Hühner. Der Bogen spannt sich vom "Ziegenkind" im römischen Asculum Picenum des 6. Jahrhunderts n. Chr. bis zum bislang jüngsten Fall aus Indien: Es ist ein Mädchen, das 2017 angeblich mit einer Gruppe von Affen aufgefunden wurde -die Haare zerzaust, auf allen Vieren hüpfend und kreischend. Doch das "Affenmädchen" von Uttar Pradesch entpuppte sich bald als verwahrlostes und kognitiv beeinträchtigtes Kind. Laut Protokoll war es nur kurz im Wald; es gab keine Affen in der Nähe. Und das "Mowgli Girl" sei nur deshalb auf allen Vieren gegangen, weil es zu schwach zum Stehen war.

Diese Entzauberung romantischer Vorstellungen des "edlen Wilden", der fernab der verdorbenen Gesellschaft in einem natürlichen Urzustand lebt, zieht sich durch die kritische Betrachtung der historischen Überlieferungen, wie sie Blumenthal sorgsam betreibt. Er räumt auf mit dem schwärmerischen Idealbild vom unschuldigen Naturkind, das sein Glück unter den Tieren gefunden hat: "Nirgends sind wir in unseren Recherchen auf ein Mogli gestoßen, nur vielfach auf 'Tarzans arme Vettern'." Doch der wilde Mensch, der vom schwedischen Naturforscher Carl von Linné 1758 als "Homo ferus" einen festen Platz in der Weltordnung eingeräumt bekam, ist auch keine kriechende Bestie mit löwenähnlichen Tatzen, die nur darauf wartet, ihre dunklen Impulse auszuleben - so wie der "Forstteufel", den man angeblich im 16. Jahrhundert in einem Wald bei Salzburg entdeckt hatte und der damals in der "Historia animalium"(1552) des Schweizer Naturforschers Konrad Gesner verewigt wurde.

Kontinuum an Verwahrlosung

Oft ist der wilde Mensch nur ein Simulant, denn Betrugsfälle gibt es viele. Mitunter aber zählt er zu den "Heiligen Narren", wie sie im alten Russland verehrt wurden - so wie der heilige Simon von Jurew, den man im 16. Jahrhundert als menschenscheues "Wolfskind" im Wald gefunden hatte. Doch am ehesten ist er (oder sie) ein kaputter Mensch, bei dem das Fehlen von menschlichen Impulsen zur Verkrüppelung der Sensibilität, zum Verlust der sozialen Kompetenz und womöglich auch zu einem gravierenden geistigen Abbau ("Dementia ex separatione") geführt hat: drastisches Anschauungsmaterial also, wie rasch körperliche und geistige Fähigkeiten verloren gehen können, wenn man sie nicht mehr lebt und übt ("Use it or lose it!" lautet demnach ein geläufiger Slogan zur Prävention und Gesundheitsförderung). Im Deutschland des 19. Jahrhunderts wurde Kaspar Hauser zum Inbegriff eines Menschen, der mit den vielen Problemen seiner langjährigen Isolation zu kämpfen hat.

Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass die Verwilderung auf eine geistige Schwäche oder eine Krankheit wie Autismus oder Schizophrenie zurückzuführen ist, an der die Betroffenen schon vorher gelitten haben. Und der Wilde in seiner Extremsituation sollte letztlich die Augen öffnen für ein Kontinuum an Verwahrlosung, die schon viel früher beginnt. Denn die Seele kann auch in Raten verkümmern, wie Blumenthal bemerkt: "In jedem Land der Erde dümpeln Kinder und Greise dahin, als wären sie nicht Teil unserer Welt, und verkommen aufgrund mangelnder Zuwendung."

Wilde Menschen besiedeln ein Grenzgebiet zwischen Tier und Mensch, das seit jeher voller Gefahren, Hoffnungen und Missverständnisse zu sein scheint. Um Einblicke in diese prekäre Zone zu erhalten, ist P.J. Blumenthals Werk ein vorzüglicher Reisebegleiter.

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