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Ein Schritt vorwärts

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Das österreichische Institut für Wirt-schaftsforschung gibt seiner soeben veröffentlichten „Gesamtschau der österreichischen Wirtschaft in den Jahren 1948 und 1949“ den Untertitel „Versuch einer volkswirtschaftlichen Bilanz“. Der Wert einer solchen Arbeit wurde durch die letzten wirtschaftspolitischen Ereignisse deutlich gemacht. Eine Reihe europäischer und außereuropäischer Länder ist bereits im Laufe der vergangenen Jahre dazu übergegangen, eine jährliche Übersicht des Standes der betreffenden Volkswirtschaften zur Grundlage einer weitsichtigen Wirtschaftspolitik zu machen. In Österreich standen einem solchen Beginnen bisher politische Hindernisse und die Unvollkommenheit des verfügbaren statistischen Materials entgegen. Deshalb nennt das Institut seine Arbeit einen .Versuch“. Dennoch ist diese mehr als das. Eine Fülle von Daten, Beobachtungen und Überlegungen ist zu einer kritischen Darstellung des Werdeganges der österreichischem Wirtschaft bis Ende 1949 verarbeitet.

Die staatspolitische Bedeutung der Arbeit des Instituts ist unverkennbar. Das Institut kann darauf hinweisen, daß die österreichische Wirtschaftspolitik die Notwendigkeit einer Verständigung der maßgeblichen Interessengruppen rechtzeitig erkannt hat und bemüht war, unter Vermeidung diktatorischer Lenkungsmaßnahmen im Verhandlungswege einen Interessenausgleich zu finden. Das Kernstück dieses Interessenausgleichs ist die Verteilung des Ertrages der gemeinsamen Arbeit, des Sozialprodukts, auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen. Es gibt praktisch keinen Staat mehr, der diese Verteilung völlig der Automatik des Marktes überläßt, überall hat sich maßgeblich der Träger der Wirtschaftshoheit eingeschaltet. Als solcher tritt im allgemeinen der Staat, in Österreich subsidiär die Konferenz der Spitzenmänner der Interessengruppen in Erscheinung. Es ist nur nebenbei von Bedeutung, daß diese Konferenz, eine Art reduziertes Wirtschaftsparlament, verfassungsrechtlich nicht — oder noch nicht — fundiert ist. Wesentlich ist, daß sie tatsächlich Entscheidungen von weittragender wirtschaftspolitischer Bedeutung fällt. Dennoch mag der Mangel an ver-faasungsmäßiger Autorität mit dazu beigetragen haben, daß die Entscheidungen dieser als Institution des öffentlichen Rechts gar nicht existenten Konferenz in so hohem Maße den Charakter von Kompromissen trugen. Das Institut spricht davon, daß das Kernproblem nie gemeistert werden konnte, weil immer wieder nur zu Scheinlösungen Zuflucht gesucht wurde, die bereits den Keim einer neuen (Preis- und Lohn-) Dynamik in sich trugen.

Kompromiß zu sein liegt im Wesen von Entscheidungen über die Verteilung des Sozialprodukts, wie sie den Exponenten der Kammern und Gewerkschaften immer wieder anheim gegeben waren.

Uber das Kompromißhafte eines solchen Interessenausgleichs hinaus steht aber das gesamtwirtschaftliche Interesse, die staatspolitische Linie, die unter allen Umständen gewahrt werden sollte, wenn nicht die Gesamtwirtschaft und damit jede einzelne Interessengruppe Schaden leiden soll. Es genügt daher nicht, wenn der tatsächliche Träger der Wirtschaftshoheit nur eine gelegentliche Konferenz der Spitzenmänner maßgeblicher Interessengruppen ist, ohne gleichzeitig rechtlich und politisch für die Wahrung der gesamtwirtschaftlichen Belange die Verantwortung zu tragen. Der Bericht des Instituts läßt daher — ohne es ausdrücklich zu sagen — doch mit aller Deutlichkeit erkennen, daß die Organisation unserer Verwaltung und öffentlichen Willensbildung den Erfordernissen einer modernen Wirtschaft nicht voll entspricht. Die durchaus ernst zu nehmende Warnung vor diktatorischen Lenkungsmaßnahmen schließt die Schaffung eines zentralen Wirtschaftsministeriums mit autonomer Entscheidungsbefugnis aus. Was aber unter Berücksichtigung der politischen Gegebenheiten unseres Landes dennoch getan werden könnte, ist folgendes:

Österreich bedarf einer Einrichtung, die beauftragt und ermächtigt ist, nicht nur — wie es das Institut bereits tut — die Entwicklung und den jeweiligen Status der österreichischen Wirtschaft laufend zu registrieren und wissenschaftlich zu kommentieren, sondern darüber hinaus ein weitsichtiges wirtschaftspolitisches Konzept auszuarbeiten und dieses sowie die sich daraus als notwendig ergebenden Maßnahmen der Verwaltung und Gesetzgebung zur Durchführung zu empfehlen.

Ein wirtschaftliches Zentralbüro, kraft Gesetzes das Röntgenauge der Wirtschaft und das wirtschaftliche Gewissen der Regierung und der Nation, könnte auch ohne diktatorische Vollmachten nicht ignoriert werden. Es würde das Minimum dessen bedeuten, wessen eine moderne Wirtschaft an zentralen Uberwachungsorganen bedarf. Es könnte — was durch ein einzelnes Ministerium nicht geschehen kann — zur Koordination der Maßnahmen der Ressortministerien, zu einer weit sieht i-genWirtschaftspolitikund zu einem gesamtwirtschaftlich tragbaren Ausgleich, der Interessen Wesentliches beitragen. Die vorliegende Volkswirtschaftsbilanz des Wirtschaftsinstituts, die durch eine allerdings noch weitgehender auf Schätzungen beruhende Vorausschau ergänzt werden müßte, ist als unerläßliche Voraussetzung der Arbeit eines zentralen Wirtschaftsbüros ein entscheidender Schritt auf diesem Weg.

Einige wichtige Feststellungen aus dieser Bilanz betreffen das Güter- und L e i s t u n g s v o 1 u m e n d e r. ö s t e r-r eichischen Wirtschaft und seine Verwendung:

Zur richtigen Beurteilung dieses rechnungsmäßig günstigen Ergebnisses (annähernde, Gleichheit des verfügbaren Gütervolumens in den Jahren 1949 und 1937) muß man jedoch in Rechnung stellen: Das Gütervolumen verteilt sich im Jahre 1949 auf eine gegenüber der Vorkriegszeit um 5 Prozent gestiegene Bevölkerung. Die Kopfquote ist daher entsprechend geringer. Der private Verbrauch war bereits 1937 infolge hoher Arbeitslosigkeit relativ gering. Im Jahre 1949 bleibt gerade der Verbrauch wichtiger Güter, wie Nahrungsmittel und gewerbliche Konsumgüter, unter dem Durchschnitt. Demgegenüber ist der Verbrauch von Genußmitteln und Dienstleistungen (und übrigens auch der von Beheizung und Beleuchtung) überdurchschnittlich hoch. In Prozenten des Jahres 1937 betrug 1949 der Verbrauch von Nahrungsmitteln 82%, gewerblichen Konsumgütern 76%, Genußmitteln 104%, Dienstleistungen 118%, Beheizung und Beleuchtung 176% (berechnef zu Preisen des Jahres 1937). Im Sektor Nahrungsmittel selbst ist ebenfalls eine Verschiebung vcm hochwertigen tierischen Produkten zu billigeren pflanzlichen Erzeugnissen festzustellen. Besonders letzteres ist ein typisches Symptom einer verarmten Volkswirtschaft.

Die wirtschaftspolitisch vordringlichen Probleme waren am Ende des Zeitraumes, auf den sich der Bericht des Instituts bezieht, im allgemeinen dieselben wie während dieses Zeitraumes — und auch heute. Sie sind: Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität durch technische und organisatorische Rationalisierung der Gesamtwirtschaft, allmähliche Wiederherstellung einer ausgeglicheneren Produktionsstruktur, Abbau der Versorgungswirtschaft zugunsten einer Leistungswirtschaft. Es sei an dieser Stelle die Einschaltung erlaubt, daß das Realeinkommen der gesamten Bevölkerung beträchtlich auch durch die in Österreich außerordentlich hohen „allgemeinen Unkosten der Gesamtwirtschaft“ gedrückt wird. Wir zählen hiezu nicht nur die Kosten der Verwaltung und wirtschaftlicher Hilfsdienste, wie Verteilung, Verkehr usw., sondern auch die zum Teil durchaus vermeidbaren, weil organisatorisch bedingten Reibungsverluste“ der Gesamtwirtschaft. Diese Posten sind um so beachtlicher, als sie zahlenmäßig nur teilweise faßbar sind. Weitere offene

Probleme sind: Arbeitslosigkeit (so beträgt der Beschäftigtenstand in der Bauwirtschaft ein Vielfaches des Jahres 1937); die Notwendigkeit der Wiederherstellung echter Preise — auch auf dem Nahrungsmittel- und Wohnungssektor; Ausweitung unseres Exports, so daß dieser allmählich in die Lage versetzt wird, Gegenleistung für das ganze von unserer Wirtschaft benötigte Importvolumen zu sein; schließlich die Wiederherstellung einer geordneten und stabilen Geldwirtschaft.

Diese Ziele können dann erreicht werden — aber wohl nur dann —, wenn sie zum Gegenstand eines weit gespannten Sanierungsprogramms der österreichischen Wirtschaft gemach't w e r d en, das von der vertrauensvollen Zusammenarbeit des ganzen Volkes getragen ist. Wenn ein solches Programm in enger Fühlung mit den Interessentengruppen, Ministerien und gesetzgebenden Körperschaften ausgearbeitet und mit breiter publizistisch-Instruktiver Wirkung der Bevölkerung zur Kenntnis gebracht wird, ist es möglich, dafür jenes Maß an staatsbürgerlicher Einsicht und Solidarität zu wecken, ohne das in keinem Lande etwas Gutes gedeihen kann.

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