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Eine Atempause für die Schöpfung

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Neue Verfahren und neue Produkte werden einerseits als Zeichen des Fortschritts begrüßt. Sie stellen aber auch ein fortgesetztes Experimentieren an unserem Lebensraum dar.

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Neue Verfahren und neue Produkte werden einerseits als Zeichen des Fortschritts begrüßt. Sie stellen aber auch ein fortgesetztes Experimentieren an unserem Lebensraum dar.

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Wie problematisch zunächst durchaus sinnvolle Projekte im nachhinein sein können, zeigt das Beispiel des Assuan-Stau-dammes am Nil in Ägypten. In der Ära Nasser in einem wirtschaftlich wenig entwickelten Land unternommen, hatte dieses Projekt sicher wirtschaftlich seine Berechtigung. Obwohl der Bau dieses Dammes für damalige Verhältnisse wegen seiner Größe eine gewisse Herausforderung darstellte, beherrschte man doch grundsätzlich die dafür notwendige Technik. Der Bau war also keineswegs ein unverantwortbares Abenteuer.

Nun, nachdem das Werk seit Jahrzehnten in Betrieb ist, zeigt sich, daß es doch ein recht fragwürdiges Projekt war. Die vielen Nebenwirkungen sind schuld daran: Der Stausee läuft nicht voll, weil die Verdunstung viel größer ist als vorhergesehen. Besondere Wasserpflanzen haben sie auf das Zehnfache erhöht.

Weiters haben sich im Wasser des Stausees Erreger verschiedenster Krankheiten angesiedelt, wodurch das Gebiet als Anziehungspunkt für den Fremdenverkehr fragwürdig ist. Darüberhinaus landet jener Schlamm, der seit Jahrtausenden die Fruchtbarkeit Ägyptens ausgemacht hat, nun im Stausee statt auf den Feldern stromabwärts, wo er fehlt. ,

Aufgrund sinkender Grundwasserspiegel sind ehemals fruchtbare Oasen von Versteppung bedroht. Ja, selbst im Mittelmeer gibt es Folgeerscheinungen: Wegen des Mangels an Plankton ist der Bestand der ehemals üppigen Sardinenschwärme deutlich zurückgegangen. Und schließlich: Das Heben und Senken des Wasserspiegels im See könnte - wie neue Forschungsergebnisse zeigen - mit dem Auftreten von Beben im nordafrikanischen Baum in Beziehung stehen.

Daraus wird deutlich: All unser Tun spielt sich in einem enorm komplexen Umfeld ab, das wir nicht durchschauen und von dem wir immer nur Teileinsichten besitzen. Daher ist dieses Tun genaugenommen immer ein Experimentieren mit unserem Lebensraum. Jeder neue chemische Stoff, jeder massive Eingriff in vorgegebene Abläufe, jede genetisch manipulierte Pflanze, jedes genetisch veränderte Tier, das freigesetzt wird, sind Experimente an unserer Umwelt, deren Ausgang ungewiß ist.

Genaugenommen müßte der Produzent jeder Neuerung die Umweltverträglichkeit seiner Erfindung umfassend nachweisen. Weil das aber prinzipiell unmöglich ist, haben wir Verfahren entwickelt, die versuchen, wenigstens die beim derzeitigen Wissensstand am schwersten wiegenden Folgen von Projekten abzuschätzen. Es gibt Umweltprüfungsverfahren. Medikamente müssen zugelassen werden.

So begrüßenswert diese Bemühungen sind, so muß man dennoch festhalten: Viele Folgen lassen sich erst nach Jahren (wie beim Assuan-Stau-damm) oder nach allgemeiner Verbreitung von Verfahren und Produkten erkennen. Ein typisches Beispiel für letzteres sind die Ovulationshemmer, also die empfängnisverhütenden „Pillen". Unabhängig von ihren problematischen Nebenwirkungen auf den Körper der Frauen, registriert man in letzter Zeit, daß ihr verbreiteter Gebrauch auch Folgen in der Umwelt hat.

Aufgrund einer von der Wiener Universitätsfrauenklinik durchgeführten Untersuchung läßt sich Ethinylestradiol, das Östrogen der Antibaby-Pille, in beachtlichen Mengen im Abwasser nachweisen. Es wird mit dem Urin der Frauen ausgeschieden, die die „Pille" nehmen. Universitätsprofessor Johannes Huber von der Wiener Universitätsfrauenklinik sprach von der „Tatsache, daß wir alle in Westeuropa in einem Ozean von Östrogenen schwimmen".

Die Folgen so hoher Mengen von Hormonen im Abwasser lassen sich nach dem derzeitigen Wissensstand nicht genau abschätzen. Auch weiß man nicht, wie lange ihr natürlicher Abbau dauert. Jedenfalls wurden bereits Geschlechtsumwandlungen bei Forellen beobachtet und bei Schnecken, Beptilien und Vögeln Veränderungen des Fortpflanzungs-apparates nachgewiesen. All das dürfte mit dieser Form der Umweltbelastung in Beziehung stehen. Bedenkt man, daß weltweit rund 55 Millionen Frauen die Pille nehmen, so wird der Umfang des Problems deutlich.

Aus dieser Sicht ist es schwer verständlich, daß die Umwelt weiterhin mit einer wachsenden Zahl neuer Stoffe bombardiert wird. Wir hängen damit Prinzipien des Wirtschaftens an, die in Zeiten großer materieller Not zulässig gewesen sein mögen. Solange es ums nackte Überleben geht, mag man der Kreativität freien Lauf lassen, um Verfahren und Produkte zu entwickeln, die das Überleben ermöglichen - selbst wenn sie bestimmte Belastungen für das Umfeld bedeuten.

Daß unsere Überflußgesellschaft aber, trotz der vielen mittlerweile erkannten negativen Folgen des Fortschritts die Zahl und das Ausmaß der Eingriffe weiter steigert, statt sie ein-zubremsen, ist unverständlich. Erst wenn Schäden unübersehbar werden, entsteht langsam die Bereitschaft zu partieller Kurskorrektur.

Dabei müßte endlich Vorsicht zum Grundprinzip unseres Handelns werden. Obwohl diese Einsicht geradezu banal ist, wird sie weiterhin sträflich vernachlässigt. Ja, mit der Gentechnik, in die man heute Unsummen investiert, kommt es aller Voraussicht nach sogar zu einem richtigen Schub an neuer Gefährdung.

Es genügt nicht, der Wirtschaft die eine oder andere Umweltbremse anzulegen, letztlich aber im bisherigen, zerstörerischen Stil weiterzumachen: Sich über Bekorde bei der Zulassung von neuen Autos zu freuen, weil es ja Katalysatoren gibt; die Materialflut durch unseren Lebensraum zu steigern, weil ja einiges wiederverwertet wird; Atomkraft als Alternative zu umweltgefährdenden kalorischen Kraftwerken in Osteuropa zu propagieren, weil man aus Tschernobyl gelernt habe...

Langfristig gilt es, unser Wirtschaften an die Gesetzmäßigkeiten unseres Lebensraumes anzupassen. Das bedeutet insbesondere: Vorsicht bei den Eingriffen. Die Schöpfung braucht eine Atempause Das ist keine Unterwerfung unter die Natur, sondern die Berücksichtigung der Gesetze des Lebens. Denn diese sind uns vorgegeben, während die ökonomischen Gesetze, die ja Produkte des menschlichen Geistes sind, zu unserer Disposition ste-

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