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Eine Million Tonnen Insektengift

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Das amerikanische Landwirtschaftsministerium fand Wasser auf seinen Mühlen und stelltef est: „Frau Doktor Carson bietet eine klare Beschreibung der wirklichen und möglichen Gefahren bei Mißbrauch von Pflanzenschutzmitteln.“ Das Ministerium forderte eine biologische und von Chemikalien freie Methode des Pflanzenschutzes und beantragte beim Kongreß 250.000 Dollar, um die wissenschaftliche Kontrolle über die Pflanzenschutzmittel verstärken zu können.

Das ist Amerika. In Europa spannt man jedoch das Netz der Wissenschaft anders. Hier tritt man nach wie vor für die chemischen Methoden des Pflanzenschutzes ein. Allein im Raum der EWG gibt es zur Zeit etwa 4000 chemische Präparate, die der Schädlingsbekämpfung dienen. Professor Dr. Beran aus Wien schätzt, daß in Europa jährlich mehr als eine Million Tonnen Insektengifte verwendet werden. Zu den wirksamsten Insektengiften gehören das DDT, ein chlorierter Kohlenwasserstoff, und das E 605, das jedoch heute immer geringere Verwendung findet. Beide Mittel haben eine große Breitenwirkung gegen Schädlinge. Sie werden in fester Form als Streu- und Stäubemittel, als Saatgutpudermittel oder als Ködermittel angewendet. Außerdem setzt man die chemischen Pflanzenschutzmittel in flüssiger Form -als Sprüh-, Spritz- oder Imprägniermittel und gasförmig als Rauch, Gas oder Dampf an.

Neben DDT und E 605 gibt es noch zahlreiche andere chemische Pflanzenschutzmittel, die spezielle Verwendungen finden. So etwa Arsen, Lindau, Hexa, Dieldrin und so fort.

Hört man auf die vielen Stimmen, die sich über Carsons Buch und in zahlreichen Debatten erhoben haben, und tritt man hinein in den Kreis der Ansichten, so zeigt sich ein Für und Wider, das bis zur Groteske reicht: Einerseits wird der Hunger in der Welt maßgebend durch den chemischen Pflanzenschutz bekämpft, anderseits tötet der chemische Pflanzenschutz den Menschen selbst. Andere Stimmen wiederum verweisen auf konkrete Beispiele der Gefahr: Lindan dringt in das Innere von Pflanzen oder Früchten ein. Bei technischem „Hexa" kann die Bodenbeeinflussung mehrere Jahre lang anhalten. „Dieldrin“ ist nachhaltig giftig für Fische, ebenso das schwere Stoffwechselgift „DNC“ (Dinitrokresol), das sich leicht im Körper speichert. Besonders die arsenhaltigen Mittel sind in ihrer Gesamtheit sehr giftig und ihre Dosierung wird nicht immer entsprechend eingehalten. Die Folge: Vergiftung. In der ungenügenden Kontrolle der Anwendung ist das Hauptübel des chemischen Pflanzenschutzes zu sehen. Hier liegt die Wurzel der Gefahr. Mit Recht verweist man darauf. Die Anwendungsvorschriften werden häufig unzureichend oder gar nicht beachtet. Es gibt Landwirte, die von einem Spritzmittel statt 200 Gramm pro Liter einfach 400 Gramm eingießen. „Je mehr, desto besser.“

Ist DDT ungefährlich?

Die Warnungen zahlreicher Mediziner und Wissenschaftler sind im Kampf gegen den chemischen Pflanzenschutz nicht zu überhören. So äußerte sich beispielsweise Professor Dr. Werner Schuphan, Direktor der Bundesanstalt für Qualitätsforschung pflanzlicher Erzeugnisse in Geisenheim: „Während des zweiten Weltkrieges wurde DDT als ein für Warmblütler völlig ungefährliches Pflanzenschutzmittel eingeführt. Nach dem Krieg revidierte man diese Meinung. So brachte eine Gemeinschaftsarbeit den Befund, daß nach der Verfütterung von DDT- behandeltem Weidegras an Milchkühe diese Tiere noch keine Schäden zeigten, jedoch mit dem Milchfett DDT ausschieden, das zur Erkrankung ihrer Kälber führte.

Ein anderer Fall auf gleicher Ebene: Professor Dr. Maier-Bode vom Pharmakologischen Institut der Universität Bonn untersuchte vor drei Jahren das Körperfett von 60 eines ratürlfthen Todes Verstorbenen auf ihren DDT- Gehalt. Bei 59 untersuchten Toten hatte sich im Fettgewebe DDT angespeichert, zum Teil bis zu 10,03 Milligramm pro Kilogramm.

Das Blickfeld der Aspekte ist weit gespannt. Es reicht vom pharmazeutisch-medizinischen bis zum biologischen Standpunkt. In einem Vortrag vor der Gesellschaft für Ernährungsbiologie in München wurde der Bogen der Befürchtungen besonders weit gespannt. Prof. Dr. Schuphan sagte hier unter anderem:

„Kann die regelmäßige Verwendung in die Pflanze eindringender, pharmakologisch noch wenig bekannter Pflanzenschutzmittel eines Tages zu einem ähnlichen Fall führen, wie wir ihn vor zwei Jahren mit dem thaladomithaltigen Schlafmittel Contergan erlebten? Was ungenügende Prüfung und fehlende Zulassung amtlicher Prüfung betrifft, ent sprechen sich die Verhältnisse auf dem Arzneimittelgebiet und auf dem Pflanzenschutzmittelsektor völlig. In anderer Beziehung ist die Situation im Pflanzenschutz sogar noch weitaus bedenklicher.“

Wie diese Ansichten auch lauten, jedes Problem hat mehrere Seiten. Die Auffassungen können verschieden sein. Drohungen und erhobene Zeigefinger der Warnung rücken dem chemischen

Rückstandsproblem nur von der einen Seite zu Leibe. Denn chemischer Pflanzenschutz bedeutet nicht nur Gift und Vergiftung. Er bedeutet auch Vergrößerung der Ernte, Vermehrung der Nahrung. Die positive Seite liegt in dem Wort „Schutz". Für und Wider halten einander die Waage, trotz der weitverbreiteten Giftangst.

Durch die chemische Schädlingsbekämpfung gelang es der Landwirtschaft im letzten Jahrzehnt, ihre Erträge teilweise um 30 Prozent zu steigern. Durch das Insektengift DDT wurden Fleckfieber und Malaria fast völlig ausgerottet. Weite Gebiete konnten dadurch landwirtschaftlich neu erschlossen werden. Neue Anbaugebiete und Pflanzenkulturen entstanden. Die Pflanzenproduktion konnte gesteigert werden. Mehr Menschen hatten zu essen. Der Pflanzenschutz wurde dadurch zu einem besonders wichtigen Sicherungsfaktor in der menschlichen Ernährung. Er ist es auch heute noch.

Es hängt von der Dosis ab

Der Wiener Hochschulprofessor Doktor B e r a n stellte sich auf die andere, positive Seite des Problems. Nicht das chemische Pflanzenschutzmittel an sich ist gefährlich, sondern die Methode der Anwendung. Hier erst darf die berechtigte Kritik der chemischen Pflanzenschutzgegner einsetzen.

„Die Giftigkeit ist keine absolute Eigenschaft chemischer Stoffe, sondern eine nachteilige physiologische Auswirkung der Aufnahme bestimmter Mengen eines Stoffes durch einen Organismus, also eine von der Dosis abhängige Eigenschaft.“ Dr. Beran folgert vom „Was“ auf das „Wie". Hier liegt das Hauptargument der Fachleute, die für den chemischen Pflanzenschutz eintreten. Die konsequente Dosierung ist wichtig. Wird das chemische Mittel in richtigen Mengen angesetzt, dann ist der Rückstand in der Nahrung völlig ungefährlich, zum Teil bessert er sie sogar auf. Grundsätzlich kann jeder noch so harmlose Stoff, ja auch ein Genußmittel Giftwirkungen ausüben, wenn nur genügend Mengen aufgenommen werden. Anderseits können die giftigen Stoffe harmlos, ja heilbringend sein, wenn sie in geringen Mengen aufgenommen werden.

Führt man die Argumente der positiven Betrachtung weiter, so ergeben sich neue Konsequenzen. In einer Vortragstagung der Arbeitsgemeinschaft für Pflanzenschutz in Wien zog Doktor Beran völlig logisch die Konsequenz: „Der Nachweis der Anwesenheit von Pflanzenschutzmitteln in Böden, Oberflächenwasser oder in manchen Nahrungsmitteln ist noch kein Beweis für höchste Giftgefährdung der Menschheit. Würden diese Tatbestände tatsächlich ausreichen, den Untergang der Menschheit herbeizuführen, so dürfte sich die antichemische Skepsis nicht auf die modernen Pflanzenschutzmittel beschränken, sondern müßte auf jegliche chemi-

sehen Stoffe, insbesondere Gift, ausgedehnt werden, von denen seit jeher Spuren ähnliche Verbreitung besitzen wie Pflanzenschutzmittelrückstände. Zu erwähnen sind die Verbindungen von Blei und Arsen sowie Schwefelfldioxyd', Giftstoffe, denen unser Orga- . nismus immer wieder und seit jeher ausgesetzt ist, die wir mit Nahrungsmitteln, mit Wasser oder mit der Atemluft aufnehmen und die als ständige Begleiter der modernen Zivilisation anzusehen sind. Auch die Natur selbst stellt eine Giftküche dar, da sie hochgiftige Verbindungen, zum Beispiel Blausäure, im Pflanzenreich produziert und den Menschen als Naturprodukt darbietet.“

Fünf Vorsichtsmaßnahmen

Dieser Ansicht folgen viele andere, die auf dem gleichen Standpunkt stehen. Um Sicherheit zu schaffen, daß keine gefährlichen Rückstände von chemischen Mitteln in Nahrungsstoffe gelangen, wurden Vorsichtsregeln aufgestellt, die nun in Österreich äußerst konsequent eingehalten werden sollen:

1. Feststellung der akuten Giftigkeit jedes zur Verwendung vorgeschlagenen Pflanzenschutzstoffes;

2. Feststellung der zulässigen täglichen Aufnahme eines Pflanzenschutzstoffes;

3. Feststellung des Lebensmittelfaktors (Anteil bestimmter Lebensmittel an der täglichen Nahrung);

4. Aufstellung zulässiger Rückstandstoleranzen;

5. Festlegung entsprechender Wartefristen zwischen den Anwendungszeiten der chemischen Mittel.

In den Fachkreisen, die weiterhin für den chemischen Pflanzenschutz eintreten, hat man also nicht nur geredet, sondern auch Maßnahmen getroffen. Rat und Tat reichten einander die Hand. Hoffentlich mit Erfolg und Konsequenz.

Das chemische Rückstandsproblem bleibt aber weiterhin ein heißes Eisen. Ein Argument fädelt sich an das andere. Pro und Kontra gehen, jedes für sich, in einem Kreis, der geschlossen werden kann. Die Wurzel des Problems liegt jedoch in einem Punkt, der allen Ansichten gemeinsam ist:

Giftgefahr in der Nahrung besteht. Aber sie besteht nur dann, wenn falsche chemische Dosierungen und unzulässige Toleranz im Pflanzenschutz so häufig wie heute vorkommen. Es kommt auf den Weg an, den Wissenschaft und Wirtschaft zusammen weitergehen.

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