Einsamkeit  - © Foto: iStock/Beli_photos

Einsamkeit: Begegnungszonen gesucht

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Niemand kann Einsamkeit verlässlich verhindern. Was kann man tun, um ihrem düsteren Schatten zu entgehen? Der Psychoanalytiker Rainer Gross bietet lebenspraktische und gesellschaftskritische Antworten.

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Niemand kann Einsamkeit verlässlich verhindern. Was kann man tun, um ihrem düsteren Schatten zu entgehen? Der Psychoanalytiker Rainer Gross bietet lebenspraktische und gesellschaftskritische Antworten.

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Können Sie sich vorstellen, ohne Ehepartner Ihre eigene Hochzeit zu arrangieren? In Süd­korea ist das nicht ganz so abwegig. Dort feiert man auch die „Hochzeit allein“. Die Inszenierung wird meist von Frauen gebucht. Das Service umfasst Hochzeitskleid, Fotograf, Limousine, Trauungszeremonie und die Festtafel – alles für eine Person. Das bizarre Phänomen ist Teil eines bestimmten Lebensstils: „Honjok“ (wörtlich „Ein-Personen-Stamm“) steht in diesem Land für Personen, die ihren Alltag freiwillig allein bestreiten; egal ob im Kino, im Restaurant oder beim Karaokesingen. Spätestens seit der Jahrtausendwende zerbricht im turbokapitalistischen Südkorea die traditionelle Familienstruktur; der Anteil der Singlehaushalte ist zuletzt massiv gestiegen. Junge Koreaner und Koreanerinnen wollen oder können ihre Energie nicht mehr für private Beziehungen aufbringen.

In Japan findet man ein noch radikaleres Rückzugsverhalten namens „Hikikomori“: Es sind meist junge Männer, die aus der Gesellschaft aussteigen und in völliger Isolation leben. Am Anfang eines solchen Einsiedlerschicksals steht oft der Miss­erfolg in einem hochkompetitiven Bildungssystem, verbunden mit Schmach und Kränkung. Dies ist ein Grund dafür, dass immer mehr Japaner lieber als „Hikikomori“ leben, als die beschämende Erfolgs- beziehungsweise Arbeitslosigkeit in der Öffentlichkeit zu ertragen. Und Europa?

Großes Gesundheitsrisiko

In den westlichen Staaten fürchtet man eine „Epidemie der Einsamkeit“. In Großbritannien gibt es bereits ein entsprechendes Staatssekretariat, in mehreren Hauptstädten wurde eine Notrufhotline eingerichtet. Nicht dabei zu sein, ist im Zeitalter der sozialen Medien zum quälenden Stressfaktor geworden. Das Ausdehnen der sozialen Kontakte auf Facebook oder Instagram lässt sich verstehen als „Versicherungspolizze“ gegen das Risiko der Einsamkeit, bemerkt Rainer Gross in seinem jüngsten Buch „Allein oder einsam?“ (Böhlau 2021).

Die darin vorgestellten Beispiele verdeutlichen problematische Entwicklungen, die nur an der Schnittstelle von Gesellschaft, Kultur und Psychologie zu erfassen sind. Der Wiener Psychiater und Psychoanalytiker vermag genau diese Wechselwirkung von inneren und äußeren Faktoren zu erhellen: Gross verbindet Medizin mit Kulturgeschichte, Soziologie mit Entwicklungspsychologie. So entsteht ein umfassender Blick auf eine Tendenz, die seit der Pandemie nochmals verstärkt ins öffentliche Bewusstsein getreten ist: die zunehmende Vereinzelung und die „Angst vor der Einsamkeit“. Soeben zeigt eine große Studienauswertung im Fachblatt American Psychologist, dass die Coronakrise in Europa und Nordamerika tatsächlich zu einem kleinen, aber signifikanten Anstieg der Einsamkeit geführt hat.

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