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Eltern werden ist nicht schwer?

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Warum sinken hierzulande im ausgehenden 20. Jahrhundert die Geburtenraten? Weshalb fallt Paaren die Entscheidung fiir ein Kind nicht leicht?

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Warum sinken hierzulande im ausgehenden 20. Jahrhundert die Geburtenraten? Weshalb fallt Paaren die Entscheidung fiir ein Kind nicht leicht?

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Sinkende Geburtenraten und zunehmende Kinderlosigkeit sind nicht zwei Begriffe für dasselbe Phänomen, obwohl beides in den letzten Jahrzehnten weitgehend parallel zu verlaufen scheint und beide Entwicklungen in vielen Fällen auf die gleichen Ursachen zurückzuführen sind. Es ist unbestritten, daß steigende Kinderlosigkeit tendenziell zu geringeren Geburtenraten führt, ebenso wie abnehmende Geburtenraten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Zunahme kinderloser Frauen beziehungsweise Paare führen.

Doch gerade die Vergangenheit hat gezeigt, daß diese beiden Entwicklungen auch weitgehend unabhängig voneinander verlaufen können. In den frühindustriellen Gesellschaften West- und Mitteleuropas war die (freiwillige und erzwungene) Kinderlosigkeit trotz hoher Geburtenraten traditionell sehr hoch - eine Folge der ökonomisch motivierten Heiratsschranken und der sozialen Ächtung unehelicher Geburten. Noch von den um 1900 geborenen Frauen hat ungefähr jede dritte kein Kind zur Welt gebracht. Erst um die Jahrhundertwende begann der Anteil der Kinderlosen zu sinken. Von den zwischen 1921 und 1925 geborenen Frauen waren nur noch 20 Prozent kinderlos.

Zur gleichen Zeit ist die Geburtenrate kontinuierlich gesunken. Dieser im späten 19. Jahrhundert einsetzende langfristige Geburtenrückgang hat sich — abgesehen von einigen Höhen und Tiefen, wie etwa dem Babyboom in den 1960er Jahren - im wesentlichen bis heute fortgesetzt. Er ist die Folge einer Fülle irreversibler gesellschaftlicher Prozesse und geänderter Wertvorstellungen; dazu zählen:

■ der Ubergang von der traditionellen Agrargesellschaft über die Industrie-zur modernen westlichen Dienstleistungsgesellschaft

■ die zunehmende Urbanisierung

■ die steigenden Überlebenschancen von Neugeborenen

■ die Verbreitung der Klein- beziehungsweise Kernfamilie als bürgerliche Lebensform

■ die Entwicklung öffentlicher Sozialversicherungssysteme

■ die verbesserte Geburtenkontrolle und Geburtensteuerung

■ das zunehmende Bildungsniveau der Bevölkerung

■ die Emanzipation und die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen

Andere vermeintliche Gründe für den kontinuierlichen Geburtenrückgang haben sich als unrichtig erwiesen, etwa: Verfügbarkeit der Pille, straffrei gewordene Abtreibung, steigende Frauenerwerbsquote, allgemeine Kinderfeindlichkeit der Gesellschaft oder sich verbreitende Zukunftsangst. Diese Gründe wurden vor allem im Zuge der plötzlichen und unerwarteten Abnahme der Geburtenraten nach dem (ebenso unerwarteten) Babyboom der 60er Jahre oft angeführt. Dieser Babyboom hat aber die Kinderlosigkeit vollends zur Ausnahme gemacht. Von den zwischen 1936 und 1940 geborenen Frauen hat nur jede zehnte kein Kind zur Welt gebracht. In derselben Generation erreichte der Anteil jemals verheirateter Frauen den historischen Höchstwert von 92 Prozent. Unter diesen Ehefrauen betrug der Anteil der Kinderlosen sogar nur sechs Prozent.

Dieser Wert ist umso bemerkenswerter, als der Anteil an Paaren, die aus biologischen oder gesundheitlichen Gründen keine Kinder bekommen können, im allgemeinen auf zumindest fünf Prozent geschätzt wird. Die Mütter der Babyboom-Ära haben aber auch mehr zweite und dritte Kinder zur Welt gebracht als die Generation davor; daher ist in den sechziger Jahren auch die Geburtenrate vorübergehend gestiegen. Mehr als drei Kinder waren aber nicht üblich, daher lag die Geburtenrate in den Jahren 1961 bis 1964 mit 2,8 Kindern pro Frau trotz der geringen Kinderlosigkeit deutlich niedriger als in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Was ist nun seit den Babyboom-Jahren passiert? Die Geburtenrate hat sich mittlerweile auf 1,4 Kinder pro Frau halbiert - weltweit liegt sie heute nur in Südeuropa (Spanien, Italien und Griechenland) und in manchen Beformstaaten Osteuropas noch niedriger. Der 1963 einsetzende Geburtenrückgang hatte zunächst keinen Einfluß auf die Kinderlosigkeit. Er beruhte überwiegend darauf, daß immer weniger Frauen mehr als zwei Kinder zur Welt brachten. Erst bei den zwischen 1951 und 1955 geborenen Frauen gab es auch wieder mehr Kinderlose. Unter den Babyboom-Kindern, den heute 30jährigen Frauen, wird die Kinderlosigkeit erstmals wieder 20 Prozent erreichen; bei den heute 20jährigen Frauen könnte die Kinderlosigkeit bei unverändertem Geburtenverhalten auf fast 30 Prozent ansteigen - derselbe hohe Wert, der schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert üblich war. Die Gründe für die heutige und die in Zukunft zu erwartende hohe Kinderlosigkeit sind aber völlig andere. Offensichtlich beruht der Trend zur Kinderlosigkeit nicht auf geänderten Geburtserwartungen; die haben sich in den letzten Jahren nicht geändert. Ginge es nach dem Kinderwunsch allein, dürften nur etwa vier Prozent aller Frauen kinderlos bleiben. Das Ideal der Zwei-Kind-Familie ist ungebrochen aufrecht: mehr als die Hälfte aller Frauen wünschen sich zwei, ein weiteres Drittel sogar mehr als zwei Kinder. Die signifikante Änderung besteht darin, daß sich heute mehr Frauen als noch vor zehn Jahren nur ein Kind wünschen. Als Hauptursachen für die zunehmende Kinderlosigkeit bleiben zwei Erklärungen:

1. Der Trend zum immer höheren (Erst)Heiratsalter und zum höheren Alter der Frau bei der ersten Geburt. Ein üblicher Lebensentwurf beginnt heute mit langen Ausbildungszeiten und Erwerbstätigkeit beider Partner sowie effektiver Verhütung bis zum Alter von 30 Jahren. Viele Paare zögern mit ihrem Kinderwunsch, bis sie sich zu alt für Kinder fühlen, bis sie den geeigneten Zeitpunkt (den es ja meist nicht wirklich gibt) verpaßt haben, oder beim Warten darauf steril geworden sind. Aus einer temporären gewünschten Kinderlosigkeit kann sich somit eine endgültige ungewollte Kinderlosigkeit entwickeln.

Tatsächlich besteht auch ein starker gesellschaftlicher Druck, die erste Geburt hinauszuschieben, bis man objektiv günstige Bedingungen (abgeschlossene Ausbildung, gesichertes Einkommen et cetera) vorfindet.

2. Die zunehmende soziale Akzeptanz der Kinderlosigkeit, auch in Ehen. Sie erleichtert die Entscheidung, keine Kinder zu bekommen; Kinderlosigkeit wird zunehmend zu einer möglichen und akzeptierten Option. Die gesellschaftlichen Nachteile einer kinderlosen Paarbeziehung scheinen abzunehmen, die subjektiv wahrgenommenen Vorteile im gleichen Maße zuzunehmen.

Das eigentliche Dilemma der heutigen Eltern-, insbesondere Frauengeneration ist, daß frau sich in Österreich zwischen Berufstätigkeit und Familie entscheiden muß, daß es immer noch schwierig oder sogaf unmöglich ist, Beruf und Kinder zu vereinbaren. Vergleiche zeigen, daß dies auch anders sein könnte. Schweden weist heute eine europaweit einzigartig hohe Geburtenrate auf (zwei Kinder pro Frau), und die für die heute 20jährigen zu erwartende Kinderlosigkeit liegt lediglich bei 15 Prozent. Gleichzeitig hat Schweden die höchsten Frauenerwerbsquoten und die höchsten Scheidungsraten, zwei Indikatoren, die im Prinzip keine hohe Kinderzahl erwarten ließen. Für die meisten anderen nordwesteuropäischen Staaten gilt ähnliches.

Das andere Extrem ist in Südeuropa zu beobachten: extrem niedrige Geburtenraten und hohe Kinderlosigkeit bei gleichzeitig sehr geringen Scheidungsraten und niedrigen Frauenerwerbsquoten. Die Erklärung für diesen Unterschied oder beinahe Widerspruch liegt - vereinfacht - offensichtlich in den in Nordeuropa ausreichend vorhandenen Kinderbetreuungseinrichtungen, den großzügigeren staatlichen Leistungen für Kinder und Eltern, einer den geänderten Bahmenbedingungen besser angepaßten Gesetzgebung, einer etwas weniger traditionellen geschlechts-spezifischen Bollenverteilung.

Österreich ist in diesem europäischen Vergleich nicht ganz leicht einzuordnen. Die Frauenerwerbsquoten sind relativ niedrig, die Scheidungsraten relativ hoch; Kinderbetreuungseinrichtungen sind insbesondere für unter dreijährige Kinder Mangelware, staatliche Leistungen sind relativ großzügig. Das geschlechtsspezifische Bollenbild ist noch eher süd- als nordeuropäisch: es wird von den Frauen im allgemeinen erwartet, nach einer Geburt die Mutter- und Hausfrauenrolle zu übernehmen (noch dazu wo es doch zwei Jahre - schlecht - bezahlte Karenz gibt), und es wird wenig getan, um diese Mütter wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern.

Ein Hauptansatzpunkt muß daher eine verbesserte Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindern sein. Dazu muß Müttern wie Vätern die Möglichkeit gegeben werden, trotz Kinderbetreuung berufliche Karriere zu machen, etwa durch ein Becht auf Teilzeitarbeit oder durch flexiblere Arbeitszeitformen (Beseitigung der Benachteiligungen der Eltern gegenüber den Rinderlosen). Dazu muß aber auch die Bolle der Väter den geänderten Bealitäten angepaßt werden (Beseitigung der Benachteiligungen der Mütter gegenüber den Vätern). Nur dann scheint auch eine Abnahme oder wenigstens eine weniger rasante Zunahme der Kinderlosigkeit denkbar.

Gelingt uns die nicht, könnten wir bald eine Zweiteilung der Bevölkerung erleben: in eine Gruppe von Paaren beziehungsweise Frauen, die sich kinderlos auf ihren beruflichen Aufstieg konzentrieren, und eine andere Gruppe von Frauen, denen aufgrund ihrer Entscheidung, Kinder zu bekommen, Aufstiegschancen im Beruf verwehrt bleiben.

Die Auswirkung einer solchen Entwicklung wäre in jedem Fall eine weitere Zunahme der Kinderlosigkeit; ob auch die Geburtenrate noch weiter absinken würde, hinge davon ab, ob die Frauen mit Kindern ausreichend viele zweite und dritte Geburten hätten. Der in Österreich hohe Anteil an Frauen mit nur einer Geburt (20 bis 25 Prozent) deutet darauf hin, daß das Leben mit Kindern schwierig und teuer ist. Familienpolitik sollte es sich zum Ziel machen, diese Lebenssituation zu verbessern, um Paaren, die (mehr) Kinder wollen, die Entscheidung für eine (weitere) Geburt zu erleichtern.

Eine aktive Familienpolitik (mehr Kinderbetreuungseinrichtungen, neues Bollenbild) könnte somit insbesondere zu einer größeren Zahl zweiter und dritter Geburten führen (und damit die Geburtenrate zumindest stabilisieren). Damit es sich aber um eine moderne, den gesellschaftlichen Veränderungen angepaßte, Familienpolitik (und keine Subventionierung des bürgerlichen Ehemodells) handelt, muß diese durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik (Teilzeitarbeitsplätze, flexible Arbeitszeitmodelle, Wiedereingliederungsmaßnahmen) und eine auf eigenständige Versorgung ausgerichtete Sozialpolitik ergänzt werden. Nur dann kann die weitere Zunahme des Anteils der Kinderlosen gebremst oder vielleicht sogar gestoppt werden (und allenfalls die Geburtenrate wieder zunehmen).

Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, ist heute sicher eine der komplexesten Entscheidungen, die (EhejPaare zu treffen haben; sie hat weitreichendere Konsequenzen als jeder andere Lebensbeschluß. Verantwortliche Elternschaft bedeutet, einem - zunächst völlig abhängigen -Menschen über Jahrzehnte hinweg ökonomische, soziale und psychologische Unterstützung zukommen zu lassen. Ein Kind kann nicht in ein neu auf den Markt kommendes Modell umgetauscht oder in schlechteren Zeiten verkauft werden.

Der Entschluß, ein Kind in die Welt zu setzen, erfordert daher eine detaillierte Beurteilung der zukünftigen Lebensumstände: hinsichtlich der Partnerschaft, der Erwerbstätigkeit und des Einkommens, der Wohnverhältnisse und nicht zuletzt der zeitlichen Verfügbarkeit. Es ist nicht verwunderlich, daß Kinderlosigkeit zunimmt, sobald sie als ein mögliches Lebensmodell gesellschaftlich akzeptiert ist. Werden heutige und zukünftige Generationen zu dem Schluß kommen, daß Elternschaft wichtig, wenngleich auch nicht immer ideal ist, und werden sie einen Weg finden, die Verantwortung für eigene Kinder mit den sonstigen Lebenserwartungen und -ansprüchen in Einklang zu bringen?

Der Autor ist

wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien

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