Erinnerungen an Balkonien

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In wenigen Tagen wird Österreich 60 Jahre Staatsvertrag feiern. Doch auch dieses Ereignis lebt in mancher Reminiszenz ganz anders weiter, als es den historischen Fakten entspricht.

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In wenigen Tagen wird Österreich 60 Jahre Staatsvertrag feiern. Doch auch dieses Ereignis lebt in mancher Reminiszenz ganz anders weiter, als es den historischen Fakten entspricht.

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Der Staatsvertrag ist dann Gott sei Dank unterzeichnet worden, nach viel Mühen unserer Regierung und zu dem Anlass war halt, weil wir den Fernseher gehabt haben, nicht nur das ganze Haus bei uns, sondern die ganze Umgebung und so haben wir das miterleben können, wie der Figl vom Balkon heruntergeschrien hat: Österreich ist frei!"

Die Erinnerung einer steirischen Frau an den 15.5.1955 ist so rührend in ihrer Empathie wie falsch in den Details! Denn Außenminister Leopold Figl hat wohl im Marmorsaal die berühmten Worte "Österreich ist frei!" gesprochen, am Balkon des Belvederes allerdings nichts gesagt, und wenn, dann hätten es die Menschen unten nicht gehört, da der Platz nicht mit Lautsprechern beschallt war! Und im Fernsehen sah man das ganze schon gar nicht, denn das TV-Versuchsprogramm startete seinen Betrieb erst im August 1955. Trotzdem wurden diese Irrtümer zu immer wieder erzählten Bestandteilen der angeblich erinnerten oder selbst erlebten Reminiszenz an jenen Tag des Staatsvertrags.

Der Grazer Historiker Peter Teibenbacher hat diese und andere mündliche Memoiren samt doppelbödigen Irrtümern gesammelt, und mit seinem Team am Oral-History-Archiv am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte an der Universität Graz ausgewertet. Er stellt die Frage nach dem "Balkonstaat Österreich", dessen Bewohner immer wieder von Brüstungen herab Bedeutendes mitgeteilt bekamen, von Hitler bis Figl. Es sei kein Wunder, so der Historiker, dass Menschen einfach erwarten, dass bei solchen Anlässen auch inhaltsschwangere Worte fallen. Tatsächlich sieht man in der Kino-"Austria Wochenschau" in der Woche nach dem 15.5. (einem Sonntag) Bilder von der Unterzeichnung, und hört erst danach die sehr knapp an die Balkonszene heranmontierte Tonsequenz Figls.

Höhere Wahrheit?

Nun könnte man der Ansicht sein, es sei doch unerheblich, wann und wo genau Leopold Figl seine historischen Worte abgesondert hat. Zumal auch seine immer wieder zu hörende "Weihnachtsansprache" ("Glaubt an dieses Österreich!") kein Radiomitschnitt des Jahres 1945 ist, sondern von ihm erst wenige Tage vor seinem Tod 1965 nachgesprochen wurden. Obwohl die Rede 1945 so nie gehalten wurde , gibt es nicht wenige Zeitzeugen, die überzeugt sind, genau diese Worte Figls damals aus dem Radio gehört zu haben. Sie dienten einer "höheren Wahrheit" so wie die Balkonszene, bemerkt Peter Teibenbacher:

"Aber wie es aussah, geschah keine mediale Manipulation, sondern gleichsam eine freiwillige: vom Balkon, einem erhöhten Standpunkt aus, zur wartenden Menge gesagt wirkt der Satz viel mehr als exklusiv in einem der Menge nicht zugänglichen Saal zu einem ebenso exklusiven Kreis an Menschen gesagt.

Vom Balkon wirkt der Satz viel volksnäher - und so ist Figl auch in Erinnerung, als volksnaher Politiker. Und die Szenen auf dem Balkon waren auch volksnah: die Politiker umarmen sich, schütteln einander die Hände, winken mit Taschentüchern, Figl zeigt den Staatsvertrag her, damit ihn jeder sehen kann."

So weit, so rührend harmlos! Aber sollte es uns nicht nachdenklich machen, was wir zu sehen, zu hören, zu erleben vermeinen? Und das gleich in der Masse? Und geht es uns mit den weiterführenden Interpretationen und Einschätzungen nicht genauso?

Kausalketten

"Der Staatsvertrag war absolut das größte Ereignis in der damaligen Zeit und ganz Österreich hoffte auf eine Besserstellung und wurde auch nicht enttäuscht. Von da an ging es aufwärts. Als die Soldaten dann im Oktober Österreich verließen, begann der Aufschwung und es wurde immer besser." Das sagt einer von Peter Teibenbachers Gesprächspartnern, und zieht den Schluss: "Ich möchte sagen, nach dem Staatsvertrag ist bei uns sprunghaft der Wohlstand aufgekommen. Es sind Autos gekommen, immer mehr, immer mehr." Teibenbachers Analyse: "Das verknüpfte Geschehen ist offensichtlich das Wirtschaftswachstum der 50er-Jahre. Dieses begann aber schon früher als der Staatsvertrag, eigentlich 1949, einer Zeit, wo die Hoffnungen in den Abschluss eines Staatsvertrages sehr gering waren, und gerade die zweite Hälfte der 50er-Jahre zeigte eine Abflachung der Wachstumsraten; die Jahre 1949,1954 und 1955 zeigten die höchsten Wachstumsraten. Aus der Verschmelzung der beiden Vorgänge, Abzug der fremden Truppen/Aufstellung des eigenen Bundesheeres etc. und kräftiges Wirtschaftswachstum entstand ein erratischer Erinnerungsblock, auch wenn er nicht ganz Gleichzeitiges verband."

Hier geht es also schon darum, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten. Erst die Fähigkeit zur Verknüpfung der Kausalitäten unserer Umwelt macht uns ja zu voll mündigen Bürgern und politischen Entscheidern. Und nicht immer sind dabei die Medien in der Rolle der Verführer zum Irrtum, sondern kollektive Wünsche können sich offenbar auch ohne mediale Begleitung in der gemeinsamen Projektion und Vorstellung ersehnter Szenen erfüllen. In diesem Sinn werden Figl, Schärf und Raab weiterhin unisono vom Balkon der Hofburg aus der wartenden Menge am Heldenplatz "Österreich ist frei!" zurufen, und dann feierlich das Wirtschaftswunder eröffnen.

Mehr über die "Analyse der Erinnerung"

im "Salzburger Nachtstudio": "Wo warst du am 15.5.1955?" am 20.5. im Programm Ö1

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