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Fahrgastflub als Irrweg

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Die ärgste Verirrung der letzten Jahre war zweifellos das Festlegen auf den „Fahrgastfluß“, von dem allein man sich Rationalisierung — die üblicherweise immer zu Lasten des Fahrgastes geht — versprach. Sie bescherte uns die „modernen“ fast sitzplatzlosen Wagen in einer Zeit, in der der Anteil der alten Leute an der Bevölkerung in zuvor unbekanntem Ausmaß zugenommen hat. Und soll der Arbeiter, der acht Stunden lang geschuftet hat, keinen Anspruch auf einen Sitzplatz haben? Offenbar ist sich die Stadtverwaltung bewußt, daß sie mit der Reduzierung der Sitzplatzzahl einen falschen Weg beschritten hat. Wohl nicht zufällig stellt das Amtsblatt „Stadt Wien“ den neuen Gelenktriebwagen der Type F bloß mit seiner Gesamtplatzzahl (109) vor, verschweigt aber das geradezu unsoziale Verhältnis “zwischen* Sitzplätzen (36) und Stehplätzen (73), wobei dieses ohnehin nicht mehr ganz so menschenunwürdig ist wie jenes der Type D (Baujahr 1957) mit 30:92! Mit solchen Fahrzeugen wird man keine Autofahrer „zurückgewinnen“. Wenn sie trotzdem neuerdings in größerer Zahl die Straßenbahn benutzen, dann doch beileibe nicht ihrer Attraktivität wegen, sondern weil sie in der Stadt eben bei bestem Willen keinen Parkplatz mehr finden.

Eine Verbesserung des Platzangebotes ließe sich erzielen, wenn man sich endlich von der Fahrschein-greißlerei losreißen und die Betriebskosten der Straßenbahn durch eine pauschale Abgabe aller berufstätigen Stadtbewohner decken wollte. Diese wäre für den Einzelhaushalt geringer als der derzeitige Aufwand für Fahrscheine, weil ein Großteil der Schaffner und des Verwaltungsapparates entbehrlich würde. Einen dahingehenden Vorschlag hat der Verfasser in „Arbeit und Wirtschaft“, Heft 11/1963, eingehend begründet. Er böte jedenfalls wieder die Möglichkeit, statt des großen „Auffangraumes“ und des breiten Mittelganges in den Großraum- und Gelenkwagen mehr Platz für Sitze vorzusehen. Ein zusätzlicher Beiwagen könnte das notwendige Platzangebot garantieren und würde keine wesentlichen Mehrkosten verursachen, weil für jeden Zug ein Schaffner (zum Überwachen des Fahgastwechsels) genügen würde.

Ein offensichtliches Verkennen von Ursache und Wirkung zeigte auch die Begründung für das Auflassen von Haltestellen. Unbestritten hielt sich das Ausmaß sachlich in tragbarem Rahmen, aber die Begründung für diese Maßnahme darf nicht unwidersprochen bleiben. Es sollte der Fahrzeitverlust infolge Behinderung der öffentlichen Verkehrsmittel, die das Wuchern des Privatverkehrs verursacht hat, teilweise ausgeglichen werden. Statt also die Ursache zu beseitigen, hat man den Fahrgästen eine neue Unannehmlichkeit aufgebürdet.

Eine Wiener Spezialität, deren Abschaffung ohne einen Groschen Mehraufwand eine wesentliche Besserung böte, ist das Fahren im Geleitzug. Die Verantwortlichen reden sich immer darauf aus, daß die Geleitzüge durch Verkehrsbehinderung entstehen. Solche Fälle, die zweifellos vorkommen, sind aber in der Minderzahl. Die meisten Geleitzüge werden schon an der Peripherie gebildet, sei es durch mangelnde Koordinierung der Fahrpläne zusammentreffender Linien oder sei es durch Einlegen von Verstärkungszügen in Geleitformation. Hier könnte durch das Einhalten gleichmäßiger und daher kürzerer Intervallen ein Schritt zur höheren Attraktivität getan werden.

Die Stadtbahn, die — unbehindert durch den Autoverkehr — selbst in ihrer jetzigen Form eine immerhin annehmbare Geschwindigkeit erreicht und die geringsten Betriebskosten verursacht, könnte auch anziehender werden. Tatsächlich wurden 'aber vor einigen Jahren die Intervalle in der Hauptverkehrszeit von acht auf zehn Minuten erhöht; sie müßten schleunigst wieder reduziert werden. Ein verbilligter Einheitstarif — vielleicht zwei Schilling, wie auf der Schnellbahn — würde der Stadtbahn weitere Fahrgäste gewinnen und die überlasteten parallellaufenden Straßenbahnlinien entlasten.

Die Umstellung auf Autobusbetrieb hat keineswegs mehr Attraktivität gebracht, und überdies kommt er um 50 Prozent teurer als der Straßenbahnbetrieb. Daher sollten keine weiteren Straßenbahnlinien auf Autobusse umgestellt werden, denn das Fahren mit ihnen (Dreizehner!) wird in Leserbriefen vollkommen zu Recht als Martyrium bezeichnet. Die Wiener Verkehrsbetriebe sollten sich die ohnedies knappen Autobuschauffeure für das Erschließen peripherer Wohngebiete ersparen.

Hier sollte nur an einigen wenigen konkreten Beispielen gezeigt werden, wie durch organisatorische Maßnahmen und durch das Uberwinden eingefahrener Denkschablonen der Stadtverkehr aus einer Qual wieder zu einem Diener für den Menschen werden könnte. Natürlich ist das nur ein Teil des Problems, dessen Lösung Richard Neutra auf dem Europa-Gespräch 1963 in hoher menschlicher Verantwortung der jungen Generation überantwortet hat: „Ich fühle, wie sehr es von einer enthusiastischen Generation von jüngeren Menschen abhängt — die ihre Frische nicht mit Modischem vertrödeln, die immer mehr alle technischen Künste mit rechter Kritik daran wenden, Leben zu fördern und zu sichern. Darauf kommt es vor allem an — ein Dollar-und-Cent-Realismus macht Urbanität dünn und brüchig. Einsicht ins nuanciert Vitale, Bio-Realismus, wird sie fördern, wenn der nur-technische Rummel durchschaut, entlarvt ist. Wenn diese Kriterien anerkannt sind, können Stimmberechtigte die rechten Spezialisten anfordern, damit sie ihnen zu einer Stadt verhelfen, die Leib und Seele wieder guttut.“

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