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Flucht in die Taler

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Die Sozialwissenschaftliche Problematik der österreichischen Bergbauern

Die jüngsten Resultate des vom Bundesministeriums für Landwirtschaft aufgestellten Berghöfekatasters haben die allgemeine Diskussion um die Existenzfrage der österreichischen Bergbauern sowie um die Entwicklung dieser unter extremen Bedingungen arbeitenden Menschen erneut entfacht. Nach einem statistischen Wertungssystem wurde nämlich hierbei ermittelt, daß im Jahre 1960 auf dem Staatsgebiet unserer Republik beinahe 122.000 Bergbauernbetriebe existierten. Rund 30 Prozent aller österreichischen Agrarwirtschaften können demnach als Bergbauernhöfe bezeichnet werden. In einzelnen Bundesländern ist jedoch der Anteil wesentlich höher: so zum Beispiel in Tirol (64 Prozent), Salzburg (58 Prozent), Vorarlberg (50 Prozent) und in Kärnten (43 Prozent). ,

Als besondere Merkmale eines Bergbauernbetriebes führt man allgemein mehrere charakteristische Faktoren an: eine außergewöhnliche relative Höhenlage, eine meist sehr unangenehme Verkehrsabgeschiedenheit, besondere Steilheit der zu bewirtschaftenden Betriebsflächen und nicht zuletzt auch ein ständiger Übersatz an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, die sich meistens mit der betrieblichen Selbstversorgung begnügen. Es ist nicht gerade ein Zufall, daß die vorhin genannten Bundesländer einschließlich der Steiermark und des alpinen Teiles von Niederösterreich insgesamt 488 Gemeinden besitzen, die sich in einer Seehöhe über 800 Meter ausdehnen und rund 472.000 Einwohner (— zirka 6,75 Prozent der gesamten österreichischen Bevölkerung) beherbergen.

Die rauhen Lebensverhältnisse ver-anlaßten nach dem spätmittelalterlichen Siedlungshöchststand (Bergbau und Saumpfade waren die Antriebskräfte) bereits in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit etliche Bergbauern, den Kampf mit den naturräumlichen Kräften sowie mit den sozialwirtschaftlichen Bedingungen aufzugeben. Dennoch war dieser allmähliche, mehreren Schwankungen unterworfene Ent-siedlumgsvorgang in den höheren Partien des ostalpinen, jetzt zur Republik Österreich gehörenden Lebensraumes noch nicht so auffällig.

Der entscheidende Impuls zur fortschreitenden Höhenflucht ergab sich jedoch erst vor rund 120 Jahren; nicht vielleicht in erster Linie wegen agrarwirtsehaftlicher Krisenerscheinungen, sondern vielmehr als Nebenprodukt der um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden industriellen Umwälzung. Waren es anfangs dieser Periode noch die Besitzer der florierenden Eisenindustrie, die bestrebt waren, für ihre neu entstandenen Hochöfen entsprechendes Heizmaterial zu sichern und daher umfangreichen Waldbesitz einschließlich vieler darin eingestreuter Einsiedlungen ankauften, so hörte sich diese Art der Grundübertragung in Anbetracht neuer industrieller Produktionsmethoden und nach dem Eisenbahnbau rasch erreichbarer Energiequellen, wie beispielsweise der Kohlen des Ostrau-Karwiner Beckens, bald auf.

An ihrer Stelle traten sofort andere gesellschaftliche Interessengruppen, die ihre neu errungene soziale Position durch den repräsentativen Aufwand von ansehnlichen Jagdrevieren festigen wollten: finanzkräftige Industrielle, Bankleute und Rechtsanwälte. Zu diesen Vertretern der großbürgerlichen Schichte gesellten sich in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg ausgesprochene Spekulanten, die eine Kapitalanlage suchten und daher kräftig den Entsiedelungsprozeß der Bergbauernhöfe vorantrieben. Und zwischen den beiden Weltkriegen traten zudem die großen Holzverwertungsfirmen als Käufer von Liegenschaften auf, die vorher von Bergbauern bewohnt oder bewirtschaftet worden sind.

Nach vorsichtigen Schätzungen sollen allein im östlichen Österreich von 1850 bis zum ersten Weltkrieg ungefähr 35.000 Höfe ihre Existenz aufgegeben haben. Dennoch sind in den alpinen Teilen unserer Republik unterschiedliche Auswirkungen zu konstatieren. Die obersteirischen Industriegründungen bewirkten bereits zwischen 1870 und 1890 einen Entsiedlungshöhepunkt im näheren und weiteren Umkreis der Mur-Mürz-Furche. Hingegen brach in den nördlichen Kalkalpen sowie in den Mittelgebirgen Kärntens erst um die Jahrhundertwende eine akute Bergbauernkrise aus.

Im westlichen Teil von Tirol und in Vorarlberg, wo die Realteilung praktiziert wurde, konnte zum Unterschied davon eine gleichmäßig

loriscnreuenae Verringerung aer Bergbauernbetriebe beobachtet werden. Hier gingen die Flächen jedoch meistens der agrarischen Nutzung nicht verloren, sondern dienten darnach den weniger lebensfähigen Höfen zur betrieblichen Aufstockung.

Nicht immer fielen, wie mitunter in den Hochgebirgszonen Tirols, die aufgebenen Bergbauemhöfe der Verödung zum Opfer. Vielmehr sind zwei charakteristische Typen der nachfolgenden Bewirtschaftung zu unterscheiden: die Zuhuben und die Forsthuben. Waren nämlich die Käufer der einstigen Bergwirtschaft dem Kreis der landwirtschaftlichen Selbständigen zuzurechnen, so unterhielten sie meistens am alten Platz des Bergbauernhofes eine Zuhube, von wo aus die umliegenden Wiesen und gelegentlichen Ackerparzellen genutzt wurden. Die Hauptfunktion dieser Hube war, die Betriebs- und Produktionsfläche der im Tal liegenden Hauptwirtschaft zu vergrößern. Diente aber das Areal bloß für Weidezwecke, so nannte man diesen bergwärtigen Betriebsstützpunkt eben Halthube.

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