Forschergeist in Trümmern

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Sie war eine Wegbereiterin der modernen Teilchenphysik, musste 1938 vor den Nazis fliehen und blieb lange Zeit vergessen: doris helmberger über das späte Erinnern an Marietta Blau.

Ihr 111. Geburtstag am 29. April wäre ein guter Anlass gewesen. Doch die Erinnerungstafel vor dem ehemaligen großen Sitzungszimmer der Wiener medizinischen Fakultät lässt noch auf sich warten: "Es wurden ein paar Ungenauigkeiten im Tafeltext festgestellt", erklärt Vizerektor Johann Jurenitsch die Verzögerung. "Aber der Marietta-Blau-Saal ist schon im Leitsystem der Universität integriert." 35 Jahre nach dem Tod der Teilchenphysikerin nutzt die Unileitung die Umstrukturierungen an der Wiener Alma Mater, um an die lange vergessene Tochter zu erinnern - für Jurenitsch eine "fällige Aufarbeitung", zumal im heurigen Jubiläumsjahr und Internationalen Jahr der Physik.

Das Gedenken an die Forscherin, die dreimal (erfolglos) für den Physiknobelpreis vorgeschlagen wurde, kommt spät: Vor zwei Jahren erst erschien eine umfassende Biografie; seit einem halben Jahr erinnert eine Gedenktafel am Gebäude des Wiener Gymnasiums in der Rahlgasse an die bedeutende Absolventin; ebenso lange gibt es die neue Marietta-Blau-Gasse in Wien/Donaustadt.

"Frau und Jüdin ist zuviel!"

Zuvor war dieser Name selbst in Fachkreisen unbekannt: Sogar Walter Kutschera, Vorstand jenes Instituts, an dem Blau von 1923 bis 1938 ihre wichtigsten Forschungsergebnisse erzielt hatte, gestand im Geleitwort zur Biografie "Marietta Blau - Sterne der Zertrümmerung" seine diesbezügliche Unwissenheit: "Wie kann es kommen, dass eine Frau, die erwiesenermaßen eine der wichtigsten Nachweismethoden in der frühen Teilchenphysik - die Kernspurplatten - entwickelt hat, so unbekannt geblieben ist?", fragt sich der Leiter des Instituts für Isotopenforschung und Kernphysik der Universität Wien, das 1910 als Institut für Radiumforschung der Akademie der Wissenschaften gegründet wurde.

Ein Hauptgrund liegt wohl im doppelten Handicap, mit dem Blau geboren wurde: "Als sie sich habilitieren wollte, sagte man ihr: Frau und Jüdin, das ist zuviel", erzählt Brigitte Strohmaier, Dozentin am Isotopenforschungsinstitut und gemeinsam mit Robert Rosner Herausgeberin von Blaus Biografie. Dazu kommt, dass die Forscherin als zurückhaltend, ja fast menschenscheu galt. "Sie hatte nicht die Ellbogen, die man auch in besten Kreisen braucht", meint der Wissenschaftshistoriker Rosner.

Schlechte Voraussetzungen also für eine steile wissenschaftliche Karriere. Dabei hatte alles so viel versprechend begonnen: 1894 wurde Marietta Blau als Tochter einer gutbürgerlichen, jüdischen Familie in Wien geboren. Nach der Matura am Mädchen-Obergymnasium des Vereins für erweiterte Frauenbildung in der Rahlgasse und dem Physik- und Mathematikstudium an der Universität Wien führten sie Forschungstätigkeiten nach Berlin und Frankfurt. 1923 begann Blau schließlich am Radiuminstitut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ihre Arbeit.

Unbezahlt. "Die konservativen und deutschnationalen Gruppierungen, die bald nach 1918 alle entscheidenden Positionen in Staat und Wirtschaft besetzten, waren an der naturwissenschaftlichen Forschung nicht interessiert", schreiben Strohmaier und Rosner in ihrer Biografie. "Manche Lehrstühle wurden aufgelassen oder einfach nicht neu besetzt. Für junge Naturwissenschaftler wurde es immer schwieriger, in Österreich eine adäquate Arbeitsstelle zu finden. Die Beschäftigung unbezahlter Mitarbeiter am Radiuminstitut war daher gang und gäbe."

Durchbruch am Hafelekar

Marietta Blau begann sich dem Gebiet der künstlich herbeigeführten Kernreaktionen zu widmen - den "Atomzertrümmerungen". Um die geladenen Teilchen nachweisen zu können, die bei diesen Reaktionen ausgesendet wurden, bediente man sich damals der äußerst fehleranfälligen Szintillationsmethode. Unter dem Mikroskop beobachtete man dabei jene Lichtblitze, die von den ausgesendeten Teilchen ausgelöst wurden.

Die fotografische Methode versprach mehr Präzision. Da geladene Teilchen an fotografischen Emulsionen ähnliche chemische Veränderungen hervorriefen wie sichtbares Licht, wurden die Bahnen der Teilchen nach dem Entwickeln der Platten durch Reihen von Schwärzungspunkten sichtbar. Jahrelang optimierte Blau die Fotoemulsionen, bevor sie ab 1932 auch ihre neun Jahre jüngere Schülerin Hertha Wambacher miteinbezog. Schließlich erhielten sie 1937 "für ihre Untersuchungen der photographischen Wirkungen der Alpha-Strahlen, der Protonen und Neutronen" Österreichs "Nobelpreis", den Ignaz-L.-Lieben Preis der Akademie der Wissenschaften.

Im selben Jahr exponierten sie ihre Platten in 2300 Metern Höhe auf dem Hafelekar. Vier Monate später waren darauf sternförmige Spuren zu sehen - die Spuren jener Teilchen der kosmischen Strahlung, die die Atomkerne der Fotoemulsion zertrümmert hatten, und die Spuren jener Teilchen, die aus dieser Zertrümmerung hervorgegangen waren. Das Echo war enorm: In der gesamten Fachwelt sorgten die "Zertrümmerungssterne" für Aufsehen.

So erfolgreich die Forschungen verliefen: Die politischen Spannungen nahmen zu - auch jene zwischen der Jüdin Blau und ihrer forschen Schülerin Wambacher, die bereits 1934 der nsdap beigetreten war. Am Ende wurde auch die geplante Weiterführung ihrer Experimente - die Mitnahme der Fotoplatten bei einem Ballonaufstieg in die Stratosphäre - ein Opfer der Politik: Marietta Blau war auf dem Weg nach Oslo, als ihr bereits Hitlers Truppen entgegenkamen. An eine Rückkehr nach Wien war nicht mehr zu denken.

Auf eine Empfehlung Albert Einsteins hin erhielt die "Physikerin von ungewöhnlicher Begabung" zumindest eine Stelle an der Technischen Hochschule in Mexiko City. Während Blau dort ins wissenschaftliche Abseits geriet, machte Wambacher am Radiuminstitut Karriere: Noch 1940 konnte sie sich habilitieren.

Ihre vertriebene Lehrerin war von adäquater Anerkennung weit entfernt: Zwar konnte Marietta Blau ab 1948 in den usa ihre fotografische Methode für die neuen Teilchenbeschleuniger adaptieren (an der Columbia University in New York, am Nationallaboratorium in Brookhaven und an der University of Miami). Die großen Ehrungen blieben freilich aus: Obwohl sie gemeinsam mit Hertha Wambacher 1950 von Erwin Schrödinger für ihre Pionierleistung um die photografische Methode der Teilchendetektion für den Physiknobelpreis nominiert wurde, erhielt ihn Cecil F. Powell: Er hat die Methode aufgegriffen und damit das Elementarteilchen À-Meson entdeckt. Vollends von Bitterkeit erfüllt wurde Blau freilich 1960 nach ihrer Rückkehr nach Wien: Etliche Professoren, die der nsdap angehört hatten, waren wieder in Amt und Würden.

Selbst ins Eck gestellt?

Sie selbst arbeitete - abermals unbezahlt - am Radiuminstitut. Blau habe sich "selber ins Eck gestellt", meinten später Kollegen. Zwar wurde sie 1962 von der Akademie der Wissenschaften mit dem Erwin-Schrödinger-Preis bedacht. Auch der Preis für Naturwissenschaften der Stadt Wien und das goldene Doktordiplom wurden ihr zuerkannt. Die Wahl zum korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften blieb der Entdeckerin der "Zertrümmerungssterne" jedoch verwehrt.

Es war der 27. Jänner 1970, als Marietta Blau einem Lungenkrebsleiden erlag. "Ihr Leben war der Wissenschaft gewidmet und erfüllt von Güte und Nächstenliebe", heißt es auf der Parte. So viel Bescheidenheit hat ihren Preis: Auf einen wissenschaftlichen Nachruf wartet man bis heute.

BUCHTIPPS:

MARIETTA BLAU -

STERNE DER ZERTRÜMMERUNG

Biographie einer Wegbereiterin der

modernen Teilchenphysik

Von Robert Rosner und Brigitte Strohmaier (Hg.). Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2003. 229 S., zahlr. Abbildungen, geb.,e 29,90

(Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung, Band 3)

ÖSTERREICHS UMGANG MIT DEM

NATIONALSOZIALISMUS

Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre

Von Friedrich Stadler (Hg.) in

Zusammenarbeit mit Eric Kandel,

Walter Kohn, Fritz Stern und Anton

Zeilinger. Springer Verlag, Wien 2004. 283 S., 14 Abbildungen, geb., e 49,-

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