Fortpflanzung als erstes Gebot

Werbung
Werbung
Werbung

Zu Fragen des Lebensbeginns und der Embryonenforschung beziehen jüdische Autoritäten unterschiedlich Stellung.

Die Erweiterung, der Erwerb und die Anwendung von Wissen, welches der Menschheit zur Vermeidung und Heilung von Krankheiten dienen kann, wird von den meisten rabbinischen Autoritäten nicht nur erlaubt, sondern sogar verlangt - falls diese dem jüdischen Gesetz, der so genannten Halacha, nicht widersprechen. So ist beispielsweise im Judentum, im Gegensatz zur Meinung der katholischen Kirche, die Anwendung moderner Befruchtungstechniken, wie beispielsweise die In-vitro-Fertilisation (IVF), grundsätzlich erlaubt.

Aus jüdischer Sicht ist die religiöse Verpflichtung, sich zu vermehren, als erstes Gebot in der Tora verankert. Für viele Paare ist eine IVF die einzige Möglichkeit, eigene Nachkommen zu erzeugen und dementsprechend rege wird diese Technik auch benutzt. Es stellt sich dabei aber ein großes Problem: Welchen Status besitzen die bei dieser Methode entstehenden "überzähligen Präembryonen"? Dürfen diese Präembryonen bei Nichtgebrauch fortgeworfen werden? Oder darf man an ihnen forschen? Hierzu ist es wichtig zu wissen, dass das ungeborene Leben im Judentum anders als im Katholizismus nicht ab der Konzeption volle Rechte besitzt, und Abtreibungen unter gewissen Umständen vorgenommen werden dürfen, allerdings immer nur dann, wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht. Von besonderem Interesse für die Frage nach dem Status des Präembryos ist auch die Tatsache, dass der Embryo bis zum vierzigsten Tag nach der Befruchtung an mehreren Stellen im Talmud als "bloßes Wasser" bezeichnet wird und "die Möglichkeit einer späteren Geburt nicht in die Betrachtungen miteinbezogen werden muss". Diese Tatsache ist in der Praxis durchaus von Bedeutung. Einige Rabbiner vertreten nämlich die Auffassung, dass eine Abtreibung in den ersten vierzig Tagen nach der Befruchtung grundsätzlich erlaubt sei. Hierbei handelt es sich allerdings um eine Minoritätenmeinung. Der größte Teil der rabbinischen Autoritäten sieht trotz dem offensichtlichen Unterschied im talmudischen Status des Embryos ab dem vierzigsten Tag nach der Befruchtung keine Bedeutung für die Abtreibungsproblematik. Eine Mehrzahl betrachtet den Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an als "potenzielle Person" und somit als schützenswert. Das ungeborene Leben zu opfern, weil das Leben eines Dritten in Gefahr ist, wie dies zum Zwecke der Stammzellforschung nötig wäre, ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich also nicht vertretbar.

Nun besitzt der "überzählige Präembryo" aber gemäß verschiedenen rabbinischen Autoritäten einen Sonderstatus, da er sich einerseits ausserhalb des Mutterleibs befindet und dort sowieso nicht lebensfähig ist und er sich andererseits auch eindeutig weniger als 40 Tage entwickelt hat. Kann ein solcher Präembryo nicht weiter verwendet werden, so ist gemäß diesen Autoritäten eine Zerstörung halachisch erlaubt. In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist auch eine Entscheidung von Rav Elijashiv, einer anerkannten rabbinischen Autorität. Elijashiv hat nämlich kürzlich in gewissen Fällen ein diagnostisches Präimplantationsscreening zur Verhinderung genetischer Krankheiten und die anschließende Zerstörung von betroffenen befruchteten Eizellen erlaubt.

Embryonenforschung

Folgt man der Argumentationslinie, wonach der Präembryo einen Sonderstatus besitzt und nicht geschützt werden muss, dann wäre es sicherlich besser und halachisch auch vertretbar, am Präembryo zu forschen und dadurch potenziell lebensrettenden Nutzen zu gewinnen, als ihn zu zerstören. Es entspricht allgemein einer jüdischen Grundhaltung, aus einer schlechten Situation wenn immer möglich das Beste herauszuholen.

Rav Moshe Tendler, Professor für jüdische Medizinethik an der Jeshiwa University in New York, hat denn auch kürzlich vor der amerikanischen "National Bioethics Advisory Commission" sehr stark für die Forschung an Stammzellen von Präembryonen Stellung bezogen. Tendler kritisierte dabei auch diejenigen Kreise, die glauben, es müssten Schutzwälle aufgebaut werden, um die Heiligkeit menschlichen Lebens bewahren zu können und die deshalb eine solche Forschung verbieten wollen. Es sei jedoch falsch, Schutzwälle auf Kosten möglicher Heilungen unzähliger schwerer Krankheiten zu errichten. Diese Auffassung allerdings ist auch unter jüdischen Autoritäten keinesfalls unumstritten.

Rav Bleich, Direktor der Cardozo School of Law der Yeshiva University, beispielsweise steht der Forschung an Präembryonen skeptischer gegenüber. Er vertritt die Auffassung, dass das Argument, der Präembryo würde sowieso zerstört werden, wenig moralisches Gewicht besitzt. Auch bei einem schwerverletzten Unfallopfer, welches keine Überlebenschancen besitze, sei schließlich eine Tötung nicht gerechtfertigt.

Es darf also bei aller Zustimmung der zitierten Rabbiner nicht außer Acht gelassen werden, dass eine große Zahl rabbinischer Autoritäten grundsätzlich die Auffassung vertritt, dass dem Embryo ab der Befruchtung der Status einer "potenziellen Person" zukommt und dass eine Zerstörung, auf welche Art auch immer, moralisch nicht so leicht zu rechtfertigen ist.

Es ist deshalb wohl im Sinne der meisten rabbinischen Autoritäten, dass andere Methoden der Stammzellforschung als diejenige mit der Beteiligung überzähliger Embryonen bevorzugt werden sollten. Die Forschung an adulten Stammzellen kann und sollte aus jüdischer Sicht sicherlich vorangetrieben werden, und auch die Nutzung bereits vorhandener Zelllinien ist halachisch wenig bedenklich. Über die Forschung an überzähligen Embryonen haben sich die rabbinischen Autoritäten noch nicht definitiv geäußert, ihre Entscheidung darf aber mit Spannung erwartet werden.

Der Autor ist Arzt und Medizinethiker und lebt derzeit in Zürich. Weitere Informationen zur jüdischen Medizinethik unter www.dr.yves.nordmann.freeservers.com

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung