Freuds bester Schüler

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Am 3. November jährte sich Wilhelm Reichs Todestag zum fünfzigsten Mal. Eine kritische Würdigung des kreativen Außenseiters von Karl Fallend

Im Juli 1927 schrieb Sigmund Freud an seinen talentiertesten Schüler:

"Lieber Herr Kollege, - Sie sind mit der Aufgabe betraut, die analytischen Kindlein in der Ausübung der Analyse zu unterrichten. Das allgemeine Urteil lautet, niemand in Wien kann es besser machen. Aber Sie sind mit der Neigung zur ausschließenden Konzentration - vielleicht bis zur Aufzucht von Steckenpferden - behaftet."

Für eine freiere Sexualität

Der Briefempfänger war der 30-jährige Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine steile Karriere zurückblicken konnte. Freud hatte in dem jungen Mann einen exzellenten Lehrenden gefunden, der - als Leiter des "Technischen Seminars" und stellvertretender Direktor des Psychoanalytischen Ambulatoriums - v.a. bei den jungen, angehenden Analytikern und Analytikerinnen geschätzt und beliebt war. Er war nicht von der alten Schule. Im Gegenteil. Wilhelm Reich war Leitfigur einer jungen Generation von Medizinstudierenden, die nach dem Weltkrieg, als alles aus den Fugen geraten war, neugierig die aufgebrochenen Grenzen einer freieren Sexualität, der Enträtselung des Unbewussten beforschten. Für sie war die Psychoanalyse das Maß aller Dinge. Und das in modernem Tempo.

Reich war im sechsten Semester seines Medizinstudiums und seine 4. Patientin war die Studentin Annie Pink. Nach einem halben Jahr wurde die Analyse beendet und nach einem weiteren halben Jahr geheiratet. An dieses Tempo mussten sich die alten Herren der psychoanalytischen Vereinigung erst gewöhnen, wenngleich sie die radikalen jungen Männer und Frauen als Bereicherung des im Weltkrieg zerstörten Vereinslebens sahen. Trotzdem, Reich war auch Außenseiter. War völlig mittellos, als er aus dem Krieg nach Wien kam um Medizin zu studieren. Die Eltern waren verstorben, das Landgut in der Bukowina ging verloren. Mit großem Enthusiasmus und Fleiß sicherte er sich den Platz in der ersten Reihe der jungen Freud-Schüler und Freuds benannte "Steckenpferde" waren bereits in Buchdeckeln geprägt: "Der triebhafte Charakter" (1925) und "Die Funktion des Orgasmus" (1927).

Marxistische Therapie

Wilhelm Reich war auch ein Kind seiner Zeit; besser: des Roten Wien. Dem Zusammenhang von allgemeinem Unglück und neurotischem Leid galt sein Interesse und der öffentlichen Sexualaufklärung vor Hunderten Jugendlichen sein Engagement, das - gemeinsam mit Marie Frischauf-Pappenheim - in der Gründung der "Sozialistischen Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung" und mehreren "Proletarischen Sexualberatungsstellen" mündete. Sein Therapieziel gleicht einer biologischen Glücksdefinition mit politischer Konsequenz: die Erlangung einer "Orgastischen Potenz"; d.h. die Fähigkeit einer vollständigen Hingabe und einer Befriedigung, die der Stauung der Sexualenergie adäquat ist. Nur eine möglichst repressionsfreie Gesellschaft ist möglichst frei von Neurosen. Deshalb war Reich und all seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eines gemeinsam: der illusionsvolle Blick in die junge, experimentierfreudige Sowjetunion - noch das Land der phantasierten Zukunft.

Ausgeschlossen von KP …

Der Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 war politisch wie biografisch eine Zäsur. Reich befand sich unter den Demonstranten, stimmte ein in den Chor der Kritik an der sozialdemokratischen Parteiführung und betrat die parteipolitische Bühne. Mit Schutzbündlern gründete er das "Komitee Revolutionärer Sozialdemokraten" und mit ihnen ging er auf Stimmenfang für die kleine KPÖ. Mit bescheidener Resonanz.

1930 übersiedelte Wilhelm Reich nach Berlin, wo er sich mehr Applaus erhoffte. Zurecht, wenn man bedenkt, dass in Berlin 1930 die KPD stimmenstärkste Partei war. In diesem Umfeld konnte er seine sexualpolitischen Aktivitäten zu einer nationalen Sex-Pol-Bewegung ausbauen. Nicht lange. In kurzer Zeit radikalisierten sich die politischen Verhältnisse und die Institutionen glichen belagerten Festungen, die keine kritischen Stimmen vertrugen. In der Kommunistischen Partei gab Stalin längst den tödlichen Ton an. Reichs Ausschluss aus der KP war folgerichtig, da er die sozialen Verhältnisse nicht nur ökonomisch, sondern auch psychologisch analysierte und damit die Parteilinie in Frage stellte.

Und auch den Psychoanalytikern war er ein Dorn im Auge. Sein Buch "Charakteranalyse" - das heute noch zur psychoanalytischen Standardliteratur gezählt wird - musste er im Eigenverlag publizieren und v.a. seine "Massenpsychologie des Faschismus" (beide 1933), in dem er gar zum bewaffneten Widerstand aufrief, war zu viel. Angesichts der brennenden Bücher, der errichteten KZs, Demütigung und Verfolgung der Juden war Reich für die Auflösung der Psychoanalytischen Gesellschaft eingetreten und damit im Gegensatz zur psychoanalytischen Führung. Diese folgten der Illusion, dass Wissenschaft und Politik so wenig vermengbar sei, wie Wasser und Öl, und merkten nicht, dass dieses Gemisch längst durch ihre Feder floss. Reichs Berliner Kollege Carl Müller-Braunschweig proklamierte 1933 im nationalsozialistischen "Reichswart": "Die Psychoanalyse bemüht sich, unfähige Weichlinge zu lebenstüchtigen Menschen umzuformen."

... & den Psychoanalytikern

Bei solch gleichgeschalteter Weltanschauung musste einer wie Wilhelm Reich entfernt werden, was am Psychoanalytischen Kongress in Luzern 1934 auch geschah - aber nicht in offener Auseinandersetzung. Lautlos ließen die Funktionäre Reichs Namen aus den Mitgliedslisten verschwinden.

Zu jener Zeit war Reich schon auf der Flucht vor der Gestapo. Getrieben nach Kopenhagen, nach Malmö, Oslo und schließlich New York. In Skandinavien versuchte er noch eine kleine Stimme des Widerstands in seiner Exil-"Zeitschrift für Politische Psychologie und Sexualökonomie" aufrechtzuerhalten. Aber resigniert schrieb er 1935 seiner ersten Frau Annie nach ihrer Trennung aus Oslo: "Es ist alles so furchtbar traurig, am schlimmsten wohl mitzuerleben, wie die Menschen ganz geradlinig dem Tode entgegenmarschieren … Der Krieg steht ja wohl sehr vor der Türe, und es wird schlimm sein."

Wilhelm Reich war gänzlich auf sich allein gestellt und forschte weiter.

Immer dringlicher geriet sein Blick darauf, nicht was oder dass ein Patient etwas verdrängte, sondern wie er dies tat und dass die Abwehr bestimmte Strukturen aufweist, die einen Charakterpanzer formen. Charakterpanzer ist gleich Körperpanzer und dieser enthält die Geschichte und den Sinn seiner Entstehung. In der Freisetzung der körperlichen Spannungen sah Reich die entscheidende Erweiterung der Psychoanalyse und kann damit als Begründer der Körperpsychotherapie bezeichnet werden.

Die Bühnen der politischen Aktion waren verloren und sein Arbeitsplatz wechselte sukzessive von der Couch ins Labor. Seine naturwissenschaftliche Suche nach der Energie des Lebens ließen ihn - wie Helmut Dahmer kritisch resümiert - von nun an jenen Weg wieder zurückschreiten, den Sigmund Freud bahnbrechend entlanggegangen war: von der Psychologie zur Physiologie; von der Lebens- und Kulturgeschichte zur Biologie; von der Deutung freier Assoziationen zur Psychotechnik.

Kosmische Orgonenergie

1939 landete Wilhelm Reich in den U.S.A., wo er sich - nach kurzem Aufenthalt in New York - hoch im Norden im kleinen Ort Rangeley zurückzog. Er glaubte nun eine spezifisch biologische Energie - als "Orgonenergie" bezeichnet - gefunden zu haben, die in der Sexualität und im Kosmos zu beobachten sei. Mitten in den Wäldern von Maine baute er Maschinen mit Metallröhren ("Cloudbuster"), die Energie von den Wolken abziehen sollten und Kästen (so genannte "Orgonakkumulatoren"), deren Wände mit Holz, Glaswolle und Stahlblechen präpariert waren und die Menschen zur Heilung verhelfen sollten. Dass Wilhelm Reich mit diesen Geräten Handel betrieben haben soll, rief die amerikanische Food and Drug Administration auf den Plan. Eine Anklage folgte. Reich verweigerte den Gerichtsbeschluss und wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Am 3. November 1957 starb Wilhelm Reich in der Bundesstrafanstalt von Lewisburg/Pennsylvania an Herzversagen.

Unbequem, verzweifelt

50 Jahre später wird nun sein Nachlass geöffnet. Egal was er enthalten mag - Wilhelm Reich hat seine Position in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eingenommen: als streitbarer, unbequemer, kreativer und verzweifelter Forscher, der in den Wirren einer rasenden Zeitgeschichte auf seine eigene Weise versuchte, das Werk Sigmund Freuds fortzuführen. Und bei aller Kritik wird sein Wirken noch lange eine Aktualität bewahren, wenn man davon ausgeht, dass Lust/Sexualität etwas mit Freiheit, und Freiheit etwas mit Politik zu hat.

Der Autor ist freiberuflicher Wissenschaftler und lehrt Sozial-psychologie an der Universität Innsbruck und der FH Graz. Zu Wilhelm Reich hat er ausgiebig publiziert - etwa:

Der "Fall" Wilhelm Reich

Hg. von K. Fallend/B. Nitschke

Psychosozial Verlag, Gießen 2002

385 Seiten, kart., € 37,-

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