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Für beide Möglichkeiten

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Die ÖVP sucht auch das Ermittlungsverfahren zu demokratisieren. Während der SPÖ-Entwurf nur jene Parteien am Ermittlungsverfahren teilnehmen lassen will, die mindestens 5 v. H. der im gesamten Bundesgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erreicht haben, empfiehlt die ÖVP, daß für die Teilnahme am Ermittlungsverfahren entweder die Fünf-Prozent-Klausel oder das Grundmandat bestimmend sein sollen. Die Ermittlung der auf jede Partei entfallenden Mandate soll im ersten Ermittlungsverfahren unverändert wie bisher erfolgen. Hat aber eine Partei kein Mandat bekommen, so soll sie im zweiten Ermittlungsverfahren nur dann berücksichtigt werden, wenn für sie im gesamten Bundesgebiet mehr als fünf Prozent der Stimmen abgegeben worden sind. Die ÖVP folgt mit diesem Alternativvorschlag zur Fünf-Pro- zent-Klausel auch den Einwendungen der Vorarlberger Landesregierung. Würde man sich zum Beispiel in diesem Bundesland entschließen, eine eigene „Vorarlberger Partei“ zu schaffen, und würde keine der traditionellen politischen Parteien zur Wahl antreten und würden weiter alle Vorarlberger Wähler dieser Landespartei ihre Stimme geben, so wäre das Bundesland Vorarlberg nach dem SPÖ-Entwurf trotzdem im Nationalrat nicht vertreten, weil die Zahl aller Wahlberechtigten keine fünf Prozent im Bundesdurchschnitt ausmacht. Deshalb tritt die ÖVP für beide Möglichkeiten ein, denn nach dem Vorarlberger Beispiel würde „die Partei dieses Bundeslandes“, der es gelang, ein Grundmandat zu erringen, am ersten Ermittlungsverfahren teilnehmen können.

Der Wahlrechtsreformvorschlag der ÖVP enthält einen wertvollen Zug zum Personenwahlrecht. Steht doch 4ie Person des Abgeordneten im Vordergrund. Es sollen bei der Zuteilung der für eine wahlwerbende Partei ermittelten Mandate zuerst die Kandidaten berücksichtigt werden, die als Einzelkandidaten in ihrem Wahlkreis die relative Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erreicht haben. Die restlichen auf eine Partei entfallenden Mandate werden den auf der Liste dieser Partei genannten Kandidaten nach Maßgabe der von ihnen im Bundesländerwahlkreis erzielten Wahlpunkte zugeteilt. Im übrigen schlägt die ÖVP die Möglichkeit der Listenkoppelung auch für die Wahl zum Nationalrat vor.

Unter Zugrundelegung der Ergebnisse der Wahl vom 18. November 1962 ergibt sich folgende Man- datsverteilung: ÖVP 78, SPÖ 72, FPÖ 11, KPÖ 4.

Besonders erfreulich ist es, daß sich die ÖVP im Unterschied zur SPÖ zu einer Neuordnung der Verzichtserklärung bereitgefunden hat. Es soll die Hinterlegung einer Blankoverzichtserklärung für unzulässig erklärt werden. Solche Verzichtserklärungen von Abgeordneten sollen künftighin nur mehr persön lich und mündlich bei der Landeswahlbehörde abgegeben werden können.

Briefwahl: Vor- und Nachteile

Als eine besondere Neuerung kann es auch angesehen werden, daß sich die ÖVP für die Einführung der Briefwahl ausspricht, um dem Mißbrauch des Wahlkartensystems zu begegnen. Es sollen alle Wähler, die am Wahltag aus persönlichen Gründen verhindert sind, sich am Ort ihrer Eintragung im Wählerverzeichnis aufzuhalten, beziehungsweise denen infolge Krankheit oder körperlicher Behinderung der Weg zum Wahllokal außerordentliche körperliche Anstrengungen bereiten würde, eine Wahlkarte erhalten. Diese Stimme zählt nur’ in dem Wahlkreis, in dem der Wahlkartenwähler im Wählerverzeichnis eingetragen ist.

Sollte daher ein Wähler am Wahltag verreisen und mit einer Wahlkarte außerhalb seines Wohnortes zur Urne gehen, so soll seine Stimme nicht wie bisher dem Wahlkreis seines zufälligen Aufenthaltes zufallen, sondern jenem Wahlkreis, in dem er im Wählerverzeichnis eingetragen ist. Manipulationen mit Wahlkarten wären demnach bei der Briefwahl ausgeschlossen. So begrüßenswert es ist, daß die ÖVP mit ihrer Empfehlung des Briefwahlsystems dem Mißbrauch des Wahlkartensystems begegnet, müßte doch Vorsorge getroffen werden, daß der Grundsatz der geheimen Wahl des Art. 26 (1) BVG. 1920 gewahrt bleibt. Außerdem wäre zu prüfen, ob die Briefwahl mit dem Verfassungsgrundsatz des persönlichen Wahlrechtes in Einklang zu bringen ist.

Letzte Instanz: das Volk

Über die beiden Vorschläge zu einer Wahlrechtsreform werden die beiden Parteien zu verhandeln haben. Sie werden beweisen können, ob es ihnen tatsächlich an einer echten Verlebendigung der Demokratie unseres Landes gelegen ist oder ob für sie die Demokratie nur ein Freibrief ist, der verschiedenen Gruppeninteressen, die bisweilen „unbeschwert“ von den Forderungen des Gemeinwohls sind, einen Tummelplatz sichert. Sollten sich aber die beiden Regierungsparteien im Arbeitsausschuß nicht einigen können, dann steht es jeder Partei frei, selbständig den parlamentarischen Weg einzuschlagen, wobei es der unterliegenden Partei nach dem Arbeitsübereinkommen freisteht, eine Volksabstimmung über das Gesetz zu verlangen. Das Volk würde in einem solchen Fall selbst über den Weg seiner Repräsentation zu entscheiden haben. Wollen wir hoffen, daß sich dann unsere Mitbürger der Schwere ihrer Entscheidung bewußt sind, denn: das Wahlrecht ist die politische Visitenkarte eines Staatsvolkes.

1 Vgl. „Die Furche“ Nr. 44.

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