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Fur ein radikales Umdenken

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1. Das Landesverteidigungskonzept fußt auf dem kaum korrigierten Kriegsbild des zweiten Weltkrieges bzw. des Koreakrieges.

• Überhastete Aufstellung des österreichischen Bundesheeres 1955.

• Abhängigkeit der Ausbildung von zurückgelassenem beziehungsweise geschenktem Gerät.

• Vor allem in der Aufbauphase des österreichischen Bundesheeres waren nahezu sämtliche Offiziere und ein Großteil der Unteroffiziere „kriegserfahren“ und daher am zweiten Weltkrieg orientiert. Schließlich aus ausbildungsmäßigen Gründen:

• Die Schulung von militärischem Führungsnachwuchs wurde intensiv an US-amerikanischen Ausbildungseinrichtungen betrieben.

2. Das Landesverteidigungskonzept ist in der Öffentlichkeit nicht glaubhaft gemacht worden, weil es nicht bekanntgegeben, geschweige denn diskutiert wurde.

Militärische Geheimhaltungsgründe können gegen die öffentliche Diskussion eines Landesverteidigungskonzeptes aus folgenden Gründen nicht ins Treffen geführt werden:

• Aspekt der Unmöglichkeit der Geheimhaltung.

• Aspekt der Geistigen Landesverteidigung, weil eine Veröffentlichung und Diskussion eines sinnvollen Landesverteidigungskonzeptes die Verteidigungsbereitschaft wecken oder stärken könnte.

• Aspekt der Neutralitätspolitik, als Beweis einer ernsthaften Neutralisierung.

3. Die Diskussion um ein neues österreichisches Landesverteidigungskonzept muß auf breitester Basis erfolgen. Radikales Umdenken in Fragen der Landesverteidigung kann erforderlich werden. Die fünfzehnjährige Erfahrung (1955 bis 1970) hat gezeigt, daß Diskussionen von Fachleuten des österreichischen Bundesheeres, die offensichtlich nur zu systemimmanenten Verbesserungen führen können, allein nicht ausreichen, ein effizientes und vor allem akzeptiertes Landesverteidigungskonzept zu konzipieren und zu realisieren.

Insbesondere ist es nicht gelungen:

• Eine wirkungsvolle Landesverteidigung (vor allem 2 lit a WG) aufzubauen.

• Noch einen erkennbaren Willen zu Landesverteidigung in weiten Kreisen der Bevölkerung zu initiieren.

Radikales Umdenken und Neudefi-nieren scheint insbesondere bei folgenden Begriffen erforderlich: „Landesverteidigung“: — es ist zur Diskussion zu stellen, wo und wie die Landesverteidigung zu erfolgen hat:

• Landesverteidigung an den Staatsgrenzen,

• Landesverteidigung an den Ballungszentren,

• Landesverteidigung an „militärisch günstigen oder möglichen“ Orten,

• Landesverteidigung unter Bestand einer aktionsfähigen Regierung,

• Landesverteidigung als permanenter Widerstand gegen eine nicht zu verhinderte Besetzung (Resistance).

• Landesverteidigung im permanenten gewaltlosen Widersetzen gegen eine nicht zu verhindernde Besetzung (Landesverteidigung in der Gesinnung).Insbesondere scheint es theoretisch nicht haltbar, die Funktionsfähigkeit und Effizienz des österreichischen Bundesheeres für die Landesverteidigung aus der Einsatzbereitschaft der Angehörigen des Bundesheeres bei Hilfsaktionen in Fällen von „Elementarkatastrophen“ abzuleiten.

„Geistige Landesverteidigung“: Es wird zu prüfen sein, ob die Methode der Propaganda durch Vertrauens-

leute der „Geistigen Landesverteidigung“, durch Reserveoffiziere und Reserveunteroffiziere ausreicht, eine Verteidigungsüberzeugung weiter Kreise der Bevölkerung herzustellen. Insbesonders erscheint es als Aufgabe:

• Sensibilisierung der Bevölkerung im Hinblick auf für sie existierende immaterielle Werte (politische Aufgabe).

• Präsentation der Sinnfälligkeit eines neuen, auf breiter Basis erarbeiteten und auf breitester Basis diskutierten Landesverteidigungskonzeptes.

• Motivation der Bevölkerung durch Glaubhaftmachen der These „Landesverteidigung ist Selbstverteidigung“.

4. Umfassende Landesverteidigung muß tatsächlich umfassend sein. Friedensforschung muß nicht l m-trieb sein, sondern ist Aufgabe aller Institutionen und Individuen, die sich mit Landesverteidigung beschäftigen.

Es hat unverzüglich wissenschaftliche Beschäftigung mit allen Fragen, die direkt und indirekt mit Landesverteidigung zusammenhängen einzusetzen. Zuständig sind hiefür,

• Militärische Institutionen (insbesondere die Landesverteidigungsakademie).

• Nichtmilitärische Institutionen (Universitäten, Hochschulen, öffentliche und private Forschungsinstitute).

• Österreicher und Ausländer, die Beschränkungen wissenschaftlicher Arbeit i. e. S. (Unvoreingenommen-heit, Offenheit, Mut usw.) auf sich nehmen wollen.

Die Enttabuisierunig darf nicht durch Politiker verhindert, sie muß vielmehr von den Politikern vorangetrieben werden. Die Enttabuisierung der Landesverteidigung und insbesondere des österreichischen Bundesheeres liegt auch im Interesse des Bundesheeres selbst und kann die Reintegration vor allem des Kaders bewirken.

Ganz besonders bedeutet das:

• Aufbau des Vorurteils Nr. 1: „Wer gegen das österreichische Bundesheer ist, ist auch gegen die Landesverteidigung, gibt den österreichischen Staat auf.“

• Abbau des Vorurteils Nr. 2: „Die Initiatoren des Volksbegehrens sind allesamt ... isten, ... linge usw. und können und wollen nichts zur Erhaltung der österreichischen Eigenstaatlichkeit beitragen.“

• Abbau des Vorurteils Nr. 3: „Friedensforschung und Forschung über gewaltlosen Widerstand sind ,linke Wissenschaften', sind keinesfalls Teile einer umfassender Landesverteidigung, sollen von militärischen Institutionen ferngehalten werden, da sie nichts als .Wehrkraftzersetzung' bedeuten.“

5. Bundesheer in der Demokratie — Demokratie im Bundesheer. Fragen der autoritären und nichtautoritären Führung militärischer Unternehmen. Die Notwendigkeit einer streng hierarchischen Organisation, vor allem auf der Ebene der Ausführung, und streng autoritäre Führung als einzige Garanten der Erfolge militärischer Unternehmen wird behauptet, aber ausschließlich mit der Erfahrung aus dem zweiten Weltkrieg bewiesen. Die Gültigkeit einer streng autoritären Führung als Erfolgsgarant im Kleinkrieg (Guerillakrieg) oder bei gewaltlosem Widerstand scheint jedoch einem unvoreingenommenem Beurteilenden zumindest fraglich. Es ist daher zu untersuchen, ob die streng hierarchische Organisation und die streng autoritäre Führung nicht Abbild des Kriegsbildes (vgl. These 1), das auch einem allfälligen derzeitigen Landesverteidigungskonzept zu Grunde liegt, darstellt.

Es ist überdies zu fordern, daß neue Führungsmodelle, die zur vollen Entfaltung aller „Geführten“ führen können, und die im Bereich der wirtschaftlichen Unternehmen teilweise bereits erprobt sind, in einem neuen Landesverteidigungskonzept Berücksichtigung finden.

6. Unter Voraussetzung des Weiterbestandes des Bundesheeres: Aufgabenteilung: Bundesgrenzschutz — Bundesmiliz. Verwirklichung der verfassungsmäßigen und neutralitätspolitischen Aufgaben bzw. Auflagen.

Die Diskussionen haben sich zunächst mit der Existenz von militärischen Landesverteidigungseinrichtungen überhaupt zu befassen. Auf Grund der derzeitigen völkerrechtlichen Lage ist es anzunehmen, daß ein neues Landesverteidigungskonzept die militärische Landesverteidigung als einen wesentlichen Bestandteil beinhalten wird. Zur Erfüllung der verfassungsrechtlichen Aufgaben erscheint jedoch eine Aufgabenteilung unabdingbar: • Bundesgrenzschutz: als Sonderkörper der Exekutive zur Erfüllung der Aufgaben laut Wehrgesetz im Frieden und im sogenannten „Neutralitätsfall“.

Ein modern ausgerüsteter, motorisierter und mechanisierter, mit entsprechenden Kommunikationseinrichtungen ausgestatteter Exekutivkörper ist erfahrungsgemäß besser in der Lage die Aufgaben: „Schutz der Grenzen der Republik“ (im „Nichtkriegsfall“), „Schutz der verfassungsgemäßen Einrichtungen sowie zur Aufrecht-erhaltung der Ordnung und Sicherheit überhaupt“,

„Hilfeleistungen bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges“, zu erfüllen.

• Bundesmiliz: Volksheer auf Basis der allgemeinen Sozialdienstpflicht (siehe These 7) mit ständigem Ausbildungs- (Grund- und Führungs-ausbildung)kader unter Minimierung der „technischen Ausbildung“. Einsatz und daher auch Ausbildung werden vom Ergebnis der Diskussion des Landesverteidigungskonzeptes abhängen. Im Vordergrund wird die Schulung für die territoriale (gewaltsame und gewaltlose) Verteidigung stehen müssen.

• Bundesverwaltung der Landesverteidigung: alle mit der Landesverteidigung in Zusammenhang stehenden Verwaltungsagenden werden von (zivilen) Bundesbeamten ausgeübt. Hiezu zählen insbesondere die derzeitigen (militärischen) Dienstzweige: Militärwirtschaftsdienst, Intendanzdienst, Militärtechnischer Dienst,sonstige Dienste (Militärärzte, Militärapotheker, Militärveterinärmediziner, Militärkapellmeister usw.).

• Bundesflugsicherung: die Beamten des (zivilen) Flugsicherungsdienstes übernehmen auch die militärische Luftraumüberwachung.

7. Einsatz der Bundesmiliz: der totale Widerstand in kleinen Gruppen, die dazu notwendige Taktik, die Territorialisierung des Einsatzes und der Führung.

Dem militärischen Teil eines neuen Landesverteidigungskonzeptes könnte folgendes strategisches Ziel zu Grunde gelegt werden: Die Besetzung des österreichischen Staatsgebietes durch einen Aggressor im Rahmen einer zuminstes gesamteuropäischen militärischen Auseinandersetzung (Neutralitäts- beziehungsweise Kriegsfall) so personal- und materialaufwendig zu machen, daß sich für ihn strategische und operative Planung unter Beachtung der Neutralität und territorialen Unversehrtheit Österreichs als militärisch sinnvoller erweist. Dies kann nach Ansicht des Verfassers jedoch nur durch den totalen Widerstand (im Sinne der umfassenden Landesverteidigung, also unter Einbeziehung der gewaltlosen Verteidigung) erreicht werden. Der totale Widerstand bedingt aber weiters den Einsatz von kleinen und kleinsten Gruppen, die sich aus lokaler Kenntnis lokale Vorteile gegenüber den Besetzern verschaffen können. Die logische Folgerung ergibt als Form der Taktik die delegierungsintensive Auftragstaktik und die Führung der kleinen Einheiten und kleinsten Gruppen durch Führungskräfte der Bundesmiliz die im Verteidigungsbereich ihrer Einheiten leben.

8. Die Ausbildung der Bundesmiliz: Ausrichtung auf den Kleinkrieg, Erziehung zum „Mitführen“. Die Offiziere des Ausbildungskaders der Bundesmiliz als „Landesverteidigungsprofessoren“.

• Die Ausbildung hat ausschließlich durch die Offiziere des Ausbildungskaders zu erfolgen; es hat sich auch in den fünfzehn Jahren des österreichischen Bundesheeres gezeigt,daß den Chargen und Unteroffizieren die schwierigen pädagogischen, vor allem aber auch psychologischen Aufgaben der „Landesverteidigungslehre“ nicht zugemutet werden können. Vom akuten Mangel an Unteroffizieren im derzeitigen österreichischen Bundesheer sei abgesehen. Der Offizier als „Landes verteidigungs-professor“ wird in der Regel 30 Soldaten zur Ausbildung übernehmen (vgl. Klassengröße nach dem Schulgesetz 1962).

• Nachdem die Sonderaufgaben, die technische Ausbildung erfordern, durch den Bundesgrenzschutz wahrgenommen werden, hat sich die Ausbildung der Bundesmiliz zu befassen:

• Mit der Körperausbildung (bisherige Körperausbildiung, zusätzlich der Zeit, die bislang für Exerzieren aufgewendet wurde).

• Mit der Kampfausbildung (auf Kleinkrieg ausgerichtet).

• Mit Rudimenten einer technischen Ausbildung (Handhabung von Kleinstfunkgeräten, Elemente des Sprengdienstes).

• Mit der Demokratieausbildung (an Stelle eines „staatsbürgerlichen Unterrichts“): Erziehung zum Mitdenken und Mitentscheiden. Aus diesem Grund ist den Soldaten ein Mitspracherecht in ihrer Ausbildung einzuräumen.

Die Ausbildung hat in Ausbildungslagern zu erfolgen. Ausbildungsvorhaben wie Exerzieren und ähnliches werden aufgelassen.

9. Das Problem der Uniform: Wehrgesinnung durch Uniformtragen. Das Sinnvolle und Sinnlose von Dienstgradabzeichen.

Die Uniformen sind, und nicht nur etwa aus Kostengründen, auf Kampf-, Ausbildungs- und Arbeitsanzug zu reduzieren. Sie dienen nicht dem Sichtbarmachen von Rangunterschieden, sondern zur besseren Erfüllung der Aufgaben: Kampf, Ausbildung oder Arbeit. Die These, daß das Bild der Uniformen in der Öffentlichkeit den Wehrwillen stärkt, wurde von Offizieren mit „Kriegserfahrung“ aufgestellt und seit Einführung des Uniformzwanges für Präsenzdiener im 1. Ausbildungsabschnitt eindeutig widerlegt.

Nicht im Einsatz oder in der Ausbildung tätige Angehörige der österreichischen Landesverteidigungseinrichtungen (vgl. These 6) tragen, wie alle anderen Beamten der Republik Österreich ebenfalls keine Uniform. Dienstgradabzeichen haben nur auf Ausgangsuniformen als Dekoration Sinn. Sie sind daher abzuschaffen und werden auf Kampf-, Ausbildungs- .und Arbeitsanzug durch Namensschilder ersetzt. Die These 9 möge nicht als Aufforderung zur „Formalreform“ mißverstanden werden!

10. Staatsbürgerliche Pflichten: die Wehrpflicht als Sonderform der Sozialpflicht. Auch Österreicher weiblichen Geschlechts sind Staatsbürger.

Die These Nr. 10 soll eine der wichtigsten sein. Sie stellt die Basis dar, auf und mit der sich ein Landesverteidigungskonzept, dessen umrißhafte Vorstellung hinter diesen Thesen steht, ermöglicht. Sie beschäftigt sich mit dem, was man bislang und ausschließlich als „Wehrpflicht“ bezeichnet hat.

Folgende Forderungen verstehen sich von selbst und werden daher ohne Erklärung und Motivation vorgelegt:

• Jeder österreichische Staatsbürger, gleichgültig ob weiblichen oder männlichen Geschlechts, ist verpflichtet, Sozialdienst zu leisten.

• Zur Ableistung dieses Sozialdienstes stehen folgende Varianten gleichwertig zur Auswahl:

Dienst in der Bundesmiliz mit der Waffe,

Dienst in der Bundesmiliz ohne Waffe,

Dienst in sozialen Institutionen, Dienst als Entwicklungshelfer, Dienst in militärischen, nichtmilitärischen Friedensforschungseinrich-rungen (aktiver Friedensdienst) im In- und Ausland.

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