„Gassenkind“ im Herzen
In einer Zeit der gnadenlosen Vereinzelung erscheint seine Lehre plötzlich hochgradig aktuell: Zum 150. Geburtstag von Alfred Adler, einem Urvater der modernen Psychologie.
In einer Zeit der gnadenlosen Vereinzelung erscheint seine Lehre plötzlich hochgradig aktuell: Zum 150. Geburtstag von Alfred Adler, einem Urvater der modernen Psychologie.
Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte er im wilden Rudolfsheim, am Rande der Stadt. Wiesen, Felder, unbebaute Grundstücke prägten in den 1870er Jahren das Gebiet von der Mariahilferstraße bis Penzing und Schloss Schönbrunn. Als „Gassenkind“ war Alfred Adler viel draußen unterwegs: Die Wiener Vorstadtkinder liebten es, in Gruppen zu spielen und das Brachland zu erkunden. Adler, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, war ein beliebter Spielgefährte. Doch der Sohn eines jüdischen Kaufmanns wurde auch deshalb an die frische Luft geschickt, weil er an Rachitis litt. Immer wieder plagten ihn Angstattacken, bei denen es zu einer Verengung der Stimmritzen kam. Und bereits mit fünf Jahren hatte er den Tod vor Augen, als er an einer schweren Lungenentzündung erkrankte. „Plötzlich durchfuhr mich ein fürchterlicher Schrecken, und wenige Tage später, nachdem es mir wieder gut ging, fasste ich den festen Entschluss, Arzt zu werden, um mich besser gegen die Todesgefahr zu wehren und mit besseren Waffen, als sie mein Doktor hatte, gegen den Tod zu kämpfen“, erinnerte er sich später.
Tatsächlich fällt es nicht schwer, die großen Motive von Adlers Lebenswerk in seiner eigenen Biographie, und zwar bereits in jungen Jahren, zu identifizieren: Das Gefühl von Freundschaft und Zusammenhang, Gemeinschaft und Solidarität erkannte er rückblickend als Keimzelle seiner psychologischen Lehre. Doch da ist auch noch der Kampf gegen die Ohnmacht, gegen das Gefühl von Minderwertigkeit und die Suche nach Wegen der Kompensation.Und das frühe Interesse am Zusammenspiel von Körper und Geist, das ihn zum Pionier der Psychosomatik machte. „Jeder Begründer einer Psychotherapierichtung“, so der Arzt Viktor Frankl, selbst Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse, „hat in seinen Büchern eigentlich nur seine eigene Krankengeschichte geschrieben und dabei die Probleme zu lösen versucht, die er selbst durchgemacht hat“. Auf Alfred Adler, den Begründer der Individualpsychologie, trifft diese Aussage jedenfalls zu.
Interaktion auf Augenhöhe
Das zeigt Alexander Kluy in seiner großen Biographie des Wiener Arztes, die zielgenau im Vorfeld von Adlers 150. Geburtstag erschienen ist. Der deutsche Autor und Journalist hat dafür umfangreiches Material gesichtet, darunter auch Archive in London, Wien und Washington. Kluy verortet Adlers Leben, Werk und Familiengeschichte in einem großen zeithistorischen Panorama, das 1835 mit der Geburt von Adlers Vater im burgenländischen Kittsee beginnt und 2011 mit der Überführung der sterblichen Überreste Alfred Adlers von Aberdeen nach Wien schließt. Kluy begreift das 20. Jahrhundert als „überlanges Jahrhundert der Psychologie“, das in der Donaumetropole seinen Anfang und sein Ende nimmt: von Sigmund Freuds epochalem Werk „Die Traumdeutung“, das 1899 veröffentlicht, aber vom Autor auf das Jahr 1900 nachdatiert wurde, bis hin zur feierlichen Beisetzung von Adler auf dem Wiener Zentralfriedhof.
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