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Gaudeamus in Nippon

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Dieser Bericht eines bereits fünfunddreißig Jahre auf dem schwierigen Wilsensfeld in Japan wirkenden Priesters wurde uns von befreundeter Seite übermittelt. Er erschien in dem vom National-katholischen Komitee Japans und vom Komitee des Apostolates herausgegebenen „Missio-nary Bulletin“, Bd. IX/Nr. 11, und enthält die neuesten Daten zur Organisation des japanischen Universitätsstudiums wie auch eine in ihrer Offenheit erschütternde Darstellung der materiellen, sozialen, geistigen und religiösen Situation der Studenten.

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Dieser Bericht eines bereits fünfunddreißig Jahre auf dem schwierigen Wilsensfeld in Japan wirkenden Priesters wurde uns von befreundeter Seite übermittelt. Er erschien in dem vom National-katholischen Komitee Japans und vom Komitee des Apostolates herausgegebenen „Missio-nary Bulletin“, Bd. IX/Nr. 11, und enthält die neuesten Daten zur Organisation des japanischen Universitätsstudiums wie auch eine in ihrer Offenheit erschütternde Darstellung der materiellen, sozialen, geistigen und religiösen Situation der Studenten.

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Das japanische Hochschulstudium unterscheidet sich in vielem von der „Universitas“ des Abendlandes, nicht unbeträchtlich aber auch von dem Bild, das man sich in Europa bisher davon gemacht hatl

Man unterscheidet in Japan grundsätzlich zwei Typen der Universität: die „daigaku“, das sind Voll-Universitäten mit vierjähriger, und die „tangi daigaku“, das sind solche mit zweijähriger Ausbildung. Die Zahl der ersteren hat sich 195 5 um 1 auf 228, die Zahl der letzteren um 13 auf 264 erhöht. Es ergibt sich somit folgende Gesamtübersicht:

Von diesen 494 Hochschulen (einschließlich zweier Schulen alten Systems) liegen 147 (29,8 Prozent) in Tokio. Die Präfekturen Ibaragi, Fu-kui und Toyama verfügen nur über je eine staatliche Universität.

An diesen Hochschulen wirken insgesamt 8,4 Prozent aller Lehrer an den Hochschulen sind Frauen; an den „daigaku“ ist ihre Zahl verhältnismäßig klein, nur 5,2 Prozent der Ge-samtzahl, an den „tanki daigaku“ beträgt ihre Zahl 30,5 Prozent des Lehrkörpers.

Das in die Augen springende Anwachsen der Zahl der Studenten seit der Einführung des neuen Systems in 1949 hält an. Die Zahl der Studenten an den Hochschulen beträgt jetzt 600.000. Verglichen mit 1949 zeigt dies ein jährliches Ansteigen um 22.000, das heißt einen Zuwachs von 53 Prozent gegenüber 1949. Verglichen mit der Zahl vor dem Krieg (193 5) hat sich die Zahl der Studenten mehr als verdreifacht. Uebersicht:

% %

1935 189,000 - 1952 502,000 126

1949 391,000 100 1953 530,000 135

1950 405,000 102 1954 581,000 146

1951 421,000 106 1955 609,573 153

Von den 503.619, die an der „daigaku“ Vorlesungen für nichtgraduierte Studenten inskribiert haben, studieren 380.870 (69,8 Prozent) Jus, sprachwissenschaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Fächer, 78.203 (15,5 Prozent) naturwissenschaftliche Fächer, 25.673 (5,1 Prozent) Landwirtschaft und 30.115 (6 Prozent) Medizin.

43.535 vollbeschäftigte Lehrer; gegenüber 41.641 im Vorjahr zeigt dies ein Ansteigen um 4,5 Prozent. Die Zahl der nicht voll beschäftigten Lehrer beträgt 20.470, das ergibt ein Ansteigen um 7,9 Prozent gegenüber den 18.957 in vergangenen Jahr. Daher:

An den „daigaku“ beträgt die Z a h 1 der weiblichen Studierenden 12,4 Prozent, an den „tanki daigaku“ übertreffen sie die Zahl der männlichen um 8 Prozent.

Die Hochschulen und noch mehr die Studenten konzentrieren sich stark in den großen Städten, besonders in Tokio: 264.299 studieren in Tokio (43,5 Prozent), 52.766 in Osaka und 46.700 in Kyoto. Im Durchschnitt kommt ein Professor auf 13,7 Studenten, aber dieses Verhältnis variiert beträchtlich nach Schulen. *

Die unausgeglichene ideologische Haltung vieler Studenten in Japan wird zu einem großen Teil durch die dürftigen wirtschaftlichen Verhältnisse verursacht, unter denen die meisten von ihnen studieren müssen. Die große Zahl der Studenten, die in Abendkursen studieren (ein Sechstel), ist bezeichnend dafür. Fast alle Abendstudenten arbeiten während des Tages, um sich ihr Studium an der Universität zu bezahlen. Dasselbe gilt für einen großen Teil der Studenten, die während des Tages Vorlesungen besuchen;

auch sie verrichten wenigstens nebenberuflich „Arbeite-“ (so heißt im Studentenslang der Nebenverdienst). Nach einigen Zahlen, die 1953 vom „Mombusho“ veröffentlicht wurden, verrichten 71,5 Prozent der Studierenden irgendeine Art von „Arbeito“. Die Lebenskosten sind verhältnismäßig hoch, besonders in den großen Städten. Tabelle 4 und 5 geben einen Ueber-blick darüber, was ein Student für Pension, Studiengelder und andere Ausgaben braucht.

Die fünf Großstädte sind: Osaka, Kyoto, Na-goya, Yokohama, Kobe. Nur 53 Prozent der Studenten besuchen die Hochschulen und wohnen zu Hause, der Rest fällt unter eine der anderen Gruppen der Tabellen 4 und 5.

Die Studiengelder betragen an den staatlichen Universitäten 400 Yen pro Monat, an den privaten mehr als das vierfache dieses Betrages, im Durchschnitt 1700 Yen im Monat. Aber die Kosten der Studienbücher, die Bibliotheksgebühren und andere notwendige Ausgaben (zum Beispiel Laboratoriengebühren) sind in diese Studiengelder nicht eingerechnet und belaufen sich auf weitere 1000 Yen monatlich an den staatlichen und 2100 Yen an den privaten Hochschulen.

Es ist erschütternd, die obigen Zahlen mit den Gehältern zu vergleichen, die an einigen katholischen Instituten bezahlt werden: Ich kenne eine Pfarre — und leider muß ich sagen, daß sie keine Ausnahme ist —, wo eine vollbeschäftigte Kindergärntnerin monatlich 4000 Yen bekommt. Davon soll sie leben und sogar noch ihre Fahrtkosten bestreiten. Für diese Stellung bezahlt man normalerweise 7000 bis 8000 Yen. Ein geprüfter Lehrer an einer Volks- oder Mittelschule beginnt mit einem Anfangsgehalt von 8000 bis 9000 Yen; wenn er sein Höchstgehalt erreicht hat, erhält er bestenfalls 25.000 Yen pro Monat.

Es ist klar, daß eine so angespannte Wirtschaftslage bei der Mehrheit der Studenten keine ausgeglichene Haltung gegenüber Leben und Gesellschaft hervorbringen kann. Sie können nichts anderes, als sich gegen eine soziale Ordnung wehren, die sie zwingt, einen Großteil des Tages statt zum Studium zum Verdienen ihres Lebensunterhaltes zu verwenden.

Diese. Studenten fallen leicht den Propheten zum Opfer, die ihnen eine gerechte und gleichmäßige Verteilung des Besitzes und der Bildungsmöglichkeiten versprechen. In ihrer idealistischen Begeisterung vergessen sie, daß die soziale Frage in lapan weniger eine Frage der Neuverteilung des Besitzes ist, als vielmehr der Erschließung neuer, für neuen Wohlstand notwendiger Hilfsquellen.'

In der letzten Zeit werden außerdem noch viele Berichte und Reden japanischer Intellektueller veröffentlicht, die ins Ausland gereist waren und denen man die Schaubeispiele sozialen und industriellen Fortschrittes in den Ländern hinter dem eisernen oder Bambusvorhang gezeigt hatte. Freilich entgeht der Aufmerksamkeit dieser „Intellektuellen“ die Wirklichkeit: die Millionen derer, die in Arbeitslagern stecken, die Millionen, die aus Furcht vor dem Regime aus dem Lande flohen — gar nicht zu erwähnen die 5000 katholischen ausländischen Missionäre, die durch die „Volksgerichte“ vertrieben wurden.

Manchmal mutmaßen wir, daß diese Redner von kommunistischen Ideen angesteckt oder daß sie bestochen sein müßten — keines von beiden ist wahr. Sie reden nur von einem, wie sie meinen, „objektiven Standpunkt“ oder preisen das an, was, wie sie glauben, dem Frieden und dem Fortschritt dient. Außer diesen Berichten gibt es aber natürlich auch systematische kommunistische Versuche, die Studenten dieses Landes mit ihren Ideen zu erfüllen, besonders über die sich selbst verwaltenden Studentenorganisationen.

Für Lehren dieser Art finden sie einen gut vorbereiteten Boden, denn der japanische Durchschnittsstudent wächst in einer Atmosphäre auf, die vollkommen von der materialistischen und positivistischen Philosophie beherrscht wird, die während der Meiji-Restauration von Europa eingeführt wurde. Einstein ist ihr Gott, und jede Religion gilt ihnen als Aberglaube, als ein Hindernis für den wahren Fortschritt der Menschheit in eine hellere und glücklichere Zukunft.

Religion — und dabei machen die meisten Studenten keinen Unterschied zwischen Buddhismus, dem neuen „shinko shukyo“ und dem Christentum — ist für sie ein Ueberrest aus dem Mittelalter, ein Ersatz, geschaffen für diejenigen, die dem wirklichen Leben und seinen Kämpfen nicht gewachsen sind. Sie finden Befriedigung in religiösen Erfahrungen, in der Betrachtung und vollständigen Selbstverleugnung, oder besser, Selbstverneinuhg, in der Unterdrückung all ihrer Wünsche und Sehnsüchte. Religion sei also letzten Endes für die kranken, trübsinnigen, wirklichkeitsfernen Träumer da, die in einer Welt leben, die sie sich selbst geschaffen haben, ohne sich viel um die wirkliche Welt um sie herum zu kümmern.

Was können wir dagegen tun? Vor allem müssen wir den Studenten unser Mitgefühl und unser Verständnis zeigen, wann immer wir mit ihnen zu tun haben. Sie werden manchmal Dinge aussprechen, die uns blasphemisch und feindselig vorkommen. Wir dürfen uns durch solche Aeußerungen nicht erschrecken lassen. Sie meinen das nicht so. Wir müssen überzeugt sein, daß sie die Wahrheit suchen und daß sie sie eines Tages in unserem Glauben finden werden, abernurdann, wennihnendas Christentum durch das Wort und durch lebende Beispiele als ein Ideal gezeigt wird, das wert ist, daß man dafür lebt und stirbt. Der Durchschnittsstudent will nichts hören von irgendeiner Art von „rikutsu“, und viele der Grundlehren unseres Glaubens klingen ihnen wie dieser, wenn er die ersten Katechismusstunden besucht. Religion muß, damit sie ihn interessiere, eine echte Beziehung zum menschlichen Leben zeigen, zum sozialen Leben, zu den tiefsten Problemen des Lebens.

Ehe wir aber mit dem Studenten reden können, müssen wir ihn kennen. Wie können wir an den Studenten herankommen, wie die erste Verbindung schaffen? Der erste Kontakt wird meistens durch einen Freund, durch Verwandte, eine katholische Mutter, eine katholische Schwester hergestellt. Manchmal wird er durch die werbende Tätigkeit der katholischen „Kenkyukai“ an seiner Schule angesprochen. Manchmal sucht er den Unterricht, weil er meint, daß die Kenntnis des Christentums ihm zum Verständnis der europäischen Kultur und Geschichte helfen könnte. Aber wenn nicht das ganze geistige Klima verändert wird, so wird ihn seine Abneigung gegen jede Religion, die während der Jahre seines Wachstums in ihm genährt wurde, davor zurückhalten, religiösen Unterricht zu suchen.

So wäre der wichtigste Faktor für die Bekehrung einer größeren Zahl von Studenten, den vorgefaßten Meinungen entgegenzuarbeiten, die sie beständig aus ihren Lehrbüchern, ihrer allgemeinen Lektüre, den Zeitungen und den Vorlesungen ihrer Professoren gewinnen. Mit anderen Worten, wir müssen der Allgemeinheit das Christentum in einem wichtigeren, gewinnenderen Lichte zeigen. Die Allgemeinheit wird durch wissenschaftliche Werke, durch die Presse, das Radio, das Kino und das Theater und alle Möglichkeiten der Massenbeeinflussung geistig geformt. Und die Gegner des Christentums haben es meisterhaft gelernt, alle diese Möglichkeiten zu nutzen, um direkt und indirekt ihre eigenen Ideen zu verbreiten. Warum war die Kirche nicht imstande, dasselbe zu tun? Vielleicht haben wir uns zu sehr darauf verlassen, steinerne und hölzerne Kirchen zu bauen, statt die ideologischen Grundlagen zu schaffen für das geistige Königreich Gottes in der allgemeinen Geistcs-haltung des japanischen Volkes.

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