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Gehirn, Welt, Wirklichkeit

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Was wir mit den Sinnen erfassen, ist nicht die Wirklichkeit, doch ein Affe ohne "richtige" Vorstellung vom Ast, auf den er sprang, hatte keine Chance, unser Vorfahr zu werden.

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Was wir mit den Sinnen erfassen, ist nicht die Wirklichkeit, doch ein Affe ohne "richtige" Vorstellung vom Ast, auf den er sprang, hatte keine Chance, unser Vorfahr zu werden.

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Wenn wir verstehen wollen, wie unser Gehirn funktioniert, müssen wir als erstes die alte Vorstellung aufgeben, daß es die Welt abbilde. Wir haben natürlich den subjektiven Eindruck, daß zum Beispiel die Zeitung, die wir vor uns sehen, genauso, wie wir sie wahrnehmen, wirklich da sei, ebenso der Klang einer Violine, die Ursache eines Schmerzes und alles andere, eben die ganze Welt. Diesen Eindruck nennt man etwas abschätzig „naiven Realismus". Überlegt und untersucht man jedoch genauer, was beim Wahrnehmen eigentlich geschieht, so entdeckt man ein System von Prozessen, die deshalb immer wunderlicher werden, weil sie mit unseren eigenen Eindrücken scheinbar nichts zu tun haben. Von der Aufdeckung vieler solcher Vorgänge und einigen Schlußfolgerungen berichtet Gerhard Roth, Professor für Verhaltensphysiologie und Direktor des Institutes für Hirnforschung an der Universität Bremen, in einer äußerst lesenswerten Darstellung der modernen Neurobiologie.

Die alten Fragen „Was ist Geist?", „Ist das Gehirn der Sitz der Seele?", „Können wir wahre Erkenntnis erlangen?" beschäftigen den Menschen seit der europäischen Antike. Aristoteles glaubte, der Geist und das Denken würden im Zwerchfell sitzen und das Gehirn sei nur dazu da, das Blut zu kühlen. Bald aber erkannte man die tatsächliche Bedeutung dieses Organs, und vor 105 Jahren schrieb der berühmte Psychologe William James, daß ein grundsätzliches Verständnis des Gehirns erreicht sei. Bei Gerhard Roth erfährt man, daß diese damalige Aussage einigermaßen voreilig war.

Er macht dem Leser verständlich, daß wir das Gehirn prinzipiell anders als bisher betrachten sollten, nämlich nicht aus unserem subjektiven Bewußtsein, sondern vom Standpunkt des Gehirns selbst aus, das ja weit mehr leistet als das, was uns bewußt wird. Was erfährt dieses Gehirn eigentlich? Alle Information besteht aus der Erregung oder Hemmung bestimmter Nervenzellen, ausgelöst durch die Reizung von fünf verschiedenen Sinnesorganen. Die entscheidende Frage lautet nun: Wie schafft es das Gehirn, aus solchen Informationen für sich selbst eine Wirklichkeit zu konstruieren? Mit dieser Frage ist auch schon das alte wichtige Problem angeschnitten, ob und wie unser eigenes Bild von der Welt mit der gleichsam wirklichen, objektiven Welt übereinstimmt. Dies ist der Gegenstand jeder Erkenntnistheorie.

Gerhard Roth zeigt an sehr vielen klaren Beispielen, daß die vom Gehirn geschaffene Wirklichkeit keineswegs eine fotografische Abbildung der Realität ist. Von dieser Realität wissen wir sehr wenig, weil wir die Brille, durch die wir sie mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen, nicht einfach ablegen können.

Wir wissen zum Beispiel, daß es außerhalb unserer Wahrnehmung keine Farben gibt, keinen Klang, kein Geräusch, nichts Schönes oder Häßliches, Gefährliches oder Langweiliges. Wir wissen nicht einmal, wie der Baum um uns wirklich ist, oder ob es Zeit tatsächlich gibt.

Daß es eine Welt außerhalb des Gehirns gibt und eine Welt unserer Wahrnehmung, erscheint uns paradox, weil wir diese Zweiteilung nicht erleben. Das Hirn zeigt aber auch andere Paradoxien, wie etwa die, daß die Impulse zur Ausführung einer Handlung zeitlich vor jenen Impulsen liegen, die wir als unsere Willensentscheidung erleben. Hebt dies die Willensfreiheit auf, die vielleicht bloß eine Täuschung ist? Wofür sind wir dann noch verantwortlich, wenn die Entscheidungen nicht das Ich, sondern schon vorher das Nervensystem getroffen haben? Unbeantwortet ist auch die Frage, wie aus den Aktionen von Nervenzellen das Bewußtsein entsteht. Dazu bietet Gerhard Roth eine interessante Hypothese: Alle Aktivitäten, bei denen das Hirn neue neuronale Netze, also neue Informationszusammenhänge herstellt, erleben wir als eigenes Bewußtsein. Alles, was gleichsam automatisch abläuft, bleibt uns daher unbewußt.

Daß das Hirn unsere eigene, subjektive Wirklichkeit konstruiert, darf natürlich nicht so verstanden werden, daß wir nur in einer beliebigen Traumwelt leben, die mit der Bealität nichts zu tun habe. Denn die Grundmuster der Informationsverarbeitung sind in einer langen Evolution entstanden, die nur solche Individuen überlebten, deren Wahrnehmung nicht völlig falsch war. „Der Affe", sagte George G. Simpson, „der keine realistische Vorstellung vom nächsten Ast hatte, brach sich das Genick und gehört daher nicht zu unseren Vorfahren". Herauszufinden, auf welche Weise das Gehirn zu solchen realistischen Vorstellungen kommt, wird noch langer und geduldiger Forschung bedürfen. Doch das, was man heute schon weiß, läßt höchst interessante Erkenntnisse erwarten. Daher ist Roths Buch spannender als ein guter Krimi.

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