Gletscher: Jedes Ende ein Anfang
Selbst das „ewige Eis“ währt nicht für immer: Der Jamtalferner ist der am schnellsten schmelzende Gletscher Österreichs. Ein Lokalaugenschein mit der Glaziologin Andrea Fischer.
Selbst das „ewige Eis“ währt nicht für immer: Der Jamtalferner ist der am schnellsten schmelzende Gletscher Österreichs. Ein Lokalaugenschein mit der Glaziologin Andrea Fischer.
Als wir den Jamtalferner im Tiroler Silvretta-Gebiet hinter uns lassen, stehen wir auf einer Anhöhe und blicken ins Tal hinaus. Die Glaziologin Andrea Fischer zeigt in lichte Höhen: „Bis zu den Felsen hoch oben hat das Eis das ganze Tal ausgefüllt.“ Die Vergletscherung vor 22.000 bis 18.000 Jahren reichte von hier bis nach Bayern und in den Süden. Der Chiemsee und der Gardasee sind wie viele andere Seen Überbleibsel der Gletscher. Das Eis hat die Landschaft geformt, geschliffen, ausgehöhlt. Die Gletscherforscherin kann seine Spuren lesen.
Die gigantischen Ausmaße des früheren Gletschers sind kaum zu fassen: Heute sehen wir idyllische Almwiesen, wo Blumen blühen, Kühe weiden, Murmeltiere pfeifen und der Jambach rauscht. Andrea Fischer hat einen Überblick wie kaum jemand anderer: Sie beobachtet und vermisst Gletscher seit mehr als 20 Jahren und verantwortete von 2009 bis 2016 die Erstellung der Gletscherberichte, die der Österreichische Alpenverein alljährlich herausgibt. Heute geht sie einer kleinen Gruppe von Hotel- und Pensionsbesitzern aus Galtür voran, die als Wanderführer ihren Hausgästen Ausflüge in der Bergwelt anbieten wollen. Eine Wanderung heißt „Pfiat di Gletscher“ und führt an die Ränder des Gletschers bei der 3156 m hohen Jamspitze.
Ökosystem in Bewegung
Der Jamtalferner ist der dynamischste und am schnellsten schmelzende Gletscher Österreichs. Bereits in 30 Jahren könnte er verschwunden sein. Seit 1920 hat er einen ganzen Kilometer seiner Gletscherzunge eingebüßt. „Von oben kommt kein Eis mehr nach. Er fließt nicht mehr, sondern zerreißt an Ort und Stelle, wie ein Pudding.“ Nicht nur er: Erst kürzlich haben Forscher eine Studie im Fachjournal Nature Communications vorgelegt: Die Gletscher der Alpen haben von 2000 bis 2014 etwa ein Sechstel ihres Eisvolumens verloren. Die Wissenschaftler beziffern den Gesamtmassenverlust in den Alpen seit 2000 mit 1,3 Gigatonnen pro Jahr. Doch bereits vor etwa 5000 Jahren waren die Gletscher deutlich kleiner als heute, die Gegend war stark bewaldet. Das weiß man, weil jahrtausendealte Holzreste aus den sich zurückziehenden Gletscherzungen ausapern. „Man muss vorsichtig sein, wenn man sagt, diese Schwankungen gab es schon immer.
Ja, aber aus anderen Gründen als heute“, so Fischer. Es gebe noch viele offene Fragen, etwa wieso sich vor 6000 Jahren gleichzeitig die Gletscher in Europa massiv ausgebreitet haben und die grüne Sahara zur Wüste wurde. „Die heutige Erwärmung ist ein Faktum, auch dass sie großteils menschengemacht ist, aber ob das der einzige Faktor für den Rückgang ist, wissen wir nicht“, erklärt die Forscherin.
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