Arzt - © Foto: picturedesk.com  / Wilhelm  Hlosta, / ÖNB-Bildarchiv

Hans Asperger: Kinderarzt und NS-Handlanger?

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Studien haben Hans Asperger 2018 braune Schmutzflecken auf dem weißen Ärztemantel zugefügt. Doch eine neue Untersuchung kann den Verdacht seines verbrecherischen Mitwirkens an der "Euthanasie" im Nationalsozialismus entkräften. Ein Vorbericht.

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Studien haben Hans Asperger 2018 braune Schmutzflecken auf dem weißen Ärztemantel zugefügt. Doch eine neue Untersuchung kann den Verdacht seines verbrecherischen Mitwirkens an der "Euthanasie" im Nationalsozialismus entkräften. Ein Vorbericht.

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In diesen Tagen findet in Wien der Zweijahreskongress der "European Society for Child and Adolescent Psychiatry" statt (30.6.-2.7.). Dort werden Herwig Czech und Edith Sheffer ihre Untersuchungen zu Hans Asperger, dem Chef der Wiener Universitäts-Kinderklinik von 1962 bis 1977, erneut vorstellen. Letztes Jahr legten sie fast zeitgleich umfangreiche Studien auf Englisch vor, in denen sie Asperger eine tiefe Verstrickung in die rassehygienisch motivierten "Euthanasie"-Morde am "Spiegelgrund" nachzuweisen suchten. Besonders das Buch von Edith Sheffer, mittlerweile ins Deutsche (Aspergers Kinder; Anm.), Italienische und Französische übersetzt, bewirkte ein breites Echo in der internationalen Presse, das auf die Kurzform gebracht werden kann: Asperger, ein Nazi-Kindermörder. Es sollten sich also tiefbraune Schmutzflecken auf dem blütenweißen Ärztemantel dieses hochgeachteten Professors für Kinderheilkunde finden?

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Da er nie der NSDAP oder ihren wesentlichen Gliederungen angehörte, konnte er nach 1945 nicht nur eine geradlinige Karriere machen, sondern durch seine Forschungen zum Autismus im Kindes-und Jugendalter weltberühmt werden -was gerade in den letzten Monaten durch die junge schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg, die unbefangen von ihrem Asperger-Syndrom spricht, wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt wurde.

Um dieses düstere Bild auf seine Verlässlichkeit hin abzuklopfen, überprüfte eine kleine Gruppe von Historikern und Kinderärzten, ehemalige Schüler Aspergers, alle von Czech und Sheffer herangezogenen Quellen und wissenschaftlichen Abhandlungen, fügte neues, bisher unbekanntes Quellenmaterial hinzu und kam in Vorbereitung einer Publikation zu einem anderen, valideren Bild. Aus diesem soll hier der zentrale Ausschnitt vorgestellt werden, nämlich die angebliche Verantwortung Aspergers für Kindestötungen am "Spiegelgrund" durch seine Tätigkeit als Gutachter.


Der mörderische Pavillon 15

Von der durch Asperger angeblich veranlassten "Überstellung Dutzender Kinder, die in einen sicheren Tod am Spiegelgrund geschickt wurden" (Sheffer), kann keine Rede sein. Unter den 789 am "Spiegelgrund" ermordeten Kindern sind nur sieben Kinder, über die Asperger als Leiter der "Heilpädagogischen Abteilung" der Universitätskinderklinik ein Gutachten erstellte. Nur in zweien dieser Gutachten kommt das Wort "Spiegelgrund" überhaupt vor. In den anderen fünf Gutachten empfiehlt Asperger ganz allgemein die Unterbringung in Heimen. Diese Kinder und ein weiteres, sechstes, wurden auch tatsächlich nicht in den "Spiegelgrund", sondern in andere Kinderheime eingewiesen. Von dort wurden sie erst nach geraumer Zeit, zum Teil erst nach neun Monaten, ohne jegliches Zutun Aspergers und ohne Bezug auf sein Gutachten, abgeholt und in den mörderischen Pavillon 15 des "Spiegelgrundes" überstellt. Meist war Heinrich Groß, der prominente psychiatrische Gerichtsgutachter der 1950er-bis 1970er- Jahre, dafür verantwortlich.

Bleibt nur Herta Schreiber, ein dreijähriges Mädchen, für Czech und Sheffer so etwas wie die Kronzeugin für Aspergers angebliche Untaten. Aber hier erscheint seine Mitwirkung außergewöhnlich in einem singulären Notfall. Herta war ein schwerkrankes Kind, das nach einer überstandenen Gehirnhautentzündung im Juni 1941 an Diphterie erkrankt und im Wilhelminenspital behandelt worden war. Nach der Entlassung am 22. Juni wurde ihre Lage rasch unhaltbar -kein Wunder bei fünf Geschwistern in Küche, Zimmer, Kabinett und einem Vater an der Ostfront. In ihrer Not wandte sich Hertas Mutter an den Hausarzt, Dr. Wilhelm Schmidt, der die Unterbringung in einem Heim empfahl, diese aber erst durch ein fachärztliches Gutachten verwirklichen konnte. Dieses erstellte Asperger am 27. Juni und notierte als Begründung "die untragbare Belastung für die Mutter". So kam Herta vier Tage später auf den "Spiegelgrund", strenggenommen durch die Einweisung des Dr. Schmidt.

Normalerweise dauerte es viel länger, bis ein Kind eingewiesen wurde. Die übliche Anlaufstelle war die KÜST (= Kinderübernahmestelle), die zentrale Behörde, die über Einweisungen von Kindern und Jugendlichen in öffentliche Fürsorgeeinrichtungen entschied.

Wenn man Aspergers persönliche Geschichte und seine deutliche Distanz zur NS-Ideologie in Betracht zieht, liegt es nahe, dass er erst nach 1945 von den Untaten erfuhr.

Man kann hier einwenden: Der beklagenswerte Zustand des Mädchens und die wahrscheinliche Aussichtslosigkeit ärztlichen Handelns prädestinierten sie geradezu für die verbrecherische "Euthanasie", in die Asperger mit seinem Gutachten eingewilligt habe. Dies setzt jedoch voraus, dass er vom Tun der Mörder in Pavillon 15 und über die genaue Organisationsstruktur des "Spiegelgrundes" Bescheid hätte wissen müssen. Die Kardinalfrage muss daher lauten: Hat er es gewusst oder war er ahnungslos?


Chaotische Organisation

Wenn man Aspergers bisherige persönliche Geschichte und seine deutliche Distanz zur NS-Ideologie in Betracht zieht, liegt es nahe, dass er ahnungslos war und erst nach 1945 von den Untaten erfuhr. Da die "Euthanasie"-Morde, deren diabolischer Ablauf auf Unauffälligkeit und Täuschung beruhte, unter strengster Geheimhaltung organisiert waren, müsste ihn jemand informiert und genau instruiert haben. Ihn, den eifrigen Katholiken, ihn, den Freund jüdischer Ärzte, ihn, das ehemalige Vorstandsmitglied der St.-Lukas-Gilde katholischer Ärzte, die einige Jahre zuvor das Töten "unwerten Lebens" im Einklang mit der päpstlichen Enzyklika Casti connubii strikt verworfen hatte? Es gibt gute Argumente dafür, dass Asperger mit "Spiegelgrund" das Kinder-und Jugendheim in seiner Gesamtheit und nicht einen bestimmten Pavillon meinte. Die riesige Anstalt war nach der Ermordung von zahlreichen psychisch kranken Insassen der Heilanstalt "Am Steinhof" im Juli 1940 eingerichtet worden. Im ersten Jahr ihres Bestehens waren dort schon annähernd 1600 Kinder und Jugendliche untergebracht.

Hans Asperger

1906–1980. Der Wiener Professor für Kinderheilkunde beschrieb eine Form des Autismus. Bei einem aktuellen Kongress in Wien steht seine Rolle in der Zeit des NS-Regimes erneut zur Debatte.

1906–1980. Der Wiener Professor für Kinderheilkunde beschrieb eine Form des Autismus. Bei einem aktuellen Kongress in Wien steht seine Rolle in der Zeit des NS-Regimes erneut zur Debatte.

Die Organisation dieses Kolosses, entstanden durch die Auflösung zahlreicher kirchlicher Kinder-und Jugendheime, war chaotisch und der Umgang mit den Kindern war, wie man aus einigen Zeugnissen aus später Erinnerung weiß, wegen vielfältiger personeller und materieller Mängel oft brutal und grausam. Aber es war eben eines der wenigen Kinder-und Jugendheime, die es damals in und um Wien gab und wohin behinderte und als verhaltensgestört oder sozial verwahrlost geltende Kinder geschickt werden konnten.


Unumgängliche Zustimmung

Es existieren einige von Asperger unterschriebene Gutachten für Kinder, die nach einer gewissen Zeit aus dem Pavillon 15 entlassen wurden und daher überlebten. Auch in ihnen ist vereinzelt "Spiegelgrund" als Ort der Unterbringung angegeben. Aber es sind durchwegs Kinder und Jugendliche mit einer guten Prognose und optimistischen Perspektive, also keine, die nur im entferntesten als Kandidaten für die "Euthanasie" anzusehen wären. Manchmal ist sogar von einer "Kleinkindergruppe" am "Spiegelgrund" die Rede. Ein überzeugender Beleg dafür, dass Asperger mit "Spiegelgrund" nicht den Tötungspavillon meinte, ist in einem seiner Aufsätze aus dem Frühjahr 1942 zu finden. Es heißt darin: Bei "allen schwierigeren Fällen wird ihnen nur eine länger dauernde stationäre Beobachtung gerecht, so wie das an der Heilpädagogischen Abteilung der Kinderklinik und in der Fürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund' verwirklicht ist". Wenn Asperger an dieser Stelle seine eigene Abteilung an der Kinderklinik, in der er zehn Jahre lang intensiv und erfolgreich gearbeitet hatte, und die Fürsorgeanstalt "Am Spiegelgrund" nebeneinander und gleichbedeutend nennt, dann kann er wohl nicht die Wirkstätte der Mörder in Pavillon 15 gemeint haben, und er wird zumindest bis dahin vom dortigen Treiben der kriminellen Ärzte nichts gewusst haben.

Asperger hatte in einem gewissen Sinn das Pech, dass er in einer menschenverachtenden Diktatur leben musste. Obwohl er im Herbst 1938 ein Ausscheiden aus der Kinderklinik ernsthaft in Betracht zog, blieb er - auf Wunsch des Klinikchefs Franz Hamburger, der ihn trotz fundamentaler weltanschaulicher Unterschiede sehr schätzte und auch zweimal vor der Gestapo warnte -innerhalb des Apparates, der ihm Kompromisse abnötigte, um seinen Weg als künftiger Wissenschaftler weitergehen und eine wachsende Familie versorgen zu können. Der NSDAP und ihren ideologisch gewichtigeren Teilorganisationen trat er nie bei - signalisierte jedoch die unumgängliche Zustimmung, die jedes totalitäre Regime seinen Bürgern abnötigt, wenn sie lebensgefährlichen oder existenzbedrohenden Widerstand nicht wagen. Als Widerstandskämpfer kann man Asperger nicht bezeichnen. Aber Handlanger der "Euthanasie"-Morde? Nein, denn damit wäre eine rote Linie überschritten gewesen, und die hier vorgebrachten Argumente sollten ausreichen, um den Verdacht des verbrecherischen Mitwirkens zu entkräften.

Der Autor ist em. Univ.-Prof. für Geschichte des Mittelalters und der Historischen Hilfswissenschaften an der Univ. Wien

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