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Harmlose oder harmvolle Radioaktivität?

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Der Regen, der in den letzten Tagen über Oesterreich, Bayern und der Schweiz fiel, war, wie die Fachleute feststellten, in einem gefährlichen Maß radioaktiv aufgeladen. Dadurch erhalten die nachstehenden Ausführungen auch für unsere Zonen besondere Aktualität. „Die Furche”

In den achttägigen Aussagen zahlreicher amerikanischer Gelehrter vor dem Holifield Committee, dem parlamentarischen Unterausschuß des Atomausschusses (JAEC = Joint Atomic Energy Committee), über den bereits berichtet wurde (siehe „Furche”, 21. Juni), zeichneten sich deutlich zwei Richtungen unter den Fachleuten, Atomphysikern, Genetikern, Biochemikern, Meteorologen, Agronomen, ab. Die pessimistische Richtung, in der die unabhängigen Wissenschafter überwiegen, hatte einen deutlichen Vorsprung vor der optimistischen, die vorzüglich, wenn auch nicht ausschließlich, aus den „jRegiėrungsgelehrten” (AEC = Atomic Energy Commission) besteht.

Zwei Punkte sind in dieser Kontroverse zu beachten. Die offizielle Interpretation der aufgesammelten Daten durch die Regierungswissenschafter gründet sich auf zwei Argumente, die beide trügerisch, wenn nicht irreführend sind: daß die winzige Menge der radioaktiven Ausschüttungen (in Maßen, die Noch trügerischer ist die Auffassung, daß die Menge der kosmischen Strahlen, weil größer, so auch gefährlicher sei als das damit verglichen vorläufig bedeutungslose Quantum der künstlichen Atomstrahlung als Folge der Atomexperimente. Dieser Trugschluß führte W. F. Libby, den wissenschaftlichen Leiter der AEC, in seinem offenen Brief an Albert Schweitzer zu der paradoxen Behauptung, daß ein Kind, das vom Meeresstrand ein paar hundert Fuß den Steilhang der Küste hinaufklettert, durch die kosmische Strahlung, die aus dem Höhenunterschied folgt, ebensoviel, wenn nicht mehr Radioaktivität empfängt als wir alle durch die tägliche globale radioaktive Ausschüttung infolge der Atomexperimente („Saturday Review”, 25. Mai). Abgesehen davon, daß die Natur der kosmischen Strahlen noch keineswegs genügend erkannt ist, um ein vollkommen sicheres Vergleichsmoment abgeben zu können, lehrt die fortschreitende allgemeine wissenschaftliche Erfahrung, daß die abstrakte Gleichsetzung von natürlichen und künstlichen, spontanen und synthetischen Vitaminen, Hormonen, Antibiotika, vielleicht in Bälde auch Aminosäuren, nicht stimmt. Auch hier liegt allein schon in der explosiven Ausschüttung künstlicher Radioaktivität (im Vergleich mit der kosmobiologischen Natur aller natürlichen Strahlung, an die der menschliche Organismus,

seit er existiert, seine Anpassung vollzieht) das offenbare Gefahrenmoment.

Nach Klärung dieser Voraussetzungen kann man einige Schritte über die Andeutungen, welche die Wissenschafter vor dem JAEC machten, hinausgehen. Die Frage, mit der sich bisher noch kein parlamentarischer Ausschuß befaßt hat, reicht tiefer: Droht der Menschheit, besonders an den Punkten höchster Konzentration radioaktiver Ausschüttung, neben dem Knochen- und Blutkrebs, von dem die Genetiker reden, am Ende auch noch der Bodenkrebs, auf dessen Möglichkeit offenbar einige der amerikanischen Wissenschafter bereits aufmerksam geworden sind? Nach Kulp ist einerseits die Diät für die Aufnahme von Strontium 90 in die Knochen, anderseits die Vegetation für dessen Aufsammlung im Boden von Bedeutung. Nicht nur die lokale Ausschüttung aus der Troposphäre bevorzugt die nördliche Hemisphäre, sondern auch die globale Ausschüttung aus der Stratosphäre hat boden- kulturlich, meteorologisch und topographisch bedingte Maximalpunkte (z. B. im Gebiet um New York). Das gewährt eine völlig neue Perspektive. Nach Alexander versucht die amerikanische Agrarwissenschaft dagegen bereits Vorkehrungen zu treffen.

Wie gewaltig die Probleme sind, welche die Radioaktivität im Boden auch in der Atomfriedensindustrie auf geben muß, zeigt sich in dem Bericht über das Plutoniumwerk in Hanford, Washington, den ein Arbeitsteam in Genf vorgeigt hat („N. Y. T.”, 18. August 1955). Auch Schweitzer verwies in seiner Radioadresse darauf. Darnach schwitzt jeder Atomreaktor in die Luft, in das Wasser, in die Erde ringsum, ganz unabhängig von den radioaktiven Abfallsprodukten und ihrer noch immer problematischen Deponierung, Radioaktivität aus, die alle Lebewesen im Umkreis berührt. Vor allem absorbieren die einzelligen Wasserpflanzen bereits Radiophosphor aus den radioaktiven Abwässern. Dann wandert die Radioaktivität über Fliegenlarven in die Fische, die eine lOO.OOOfache Konzentration zeigen, oder über andere Insekten in die Vögel, unter denen die Schwalben über dem Fluß eine 500.000fache Konzentration aufweisen. Durch die Rauchbildung des Plutoniumwerkes wird das Gras der Umgebung radioaktiv, wodurch sich Radiojod in den Schilddrüsen der Kaninchen ablagert.

Mit Recht kann aus diesen Beobachtungen geschlossen werden, was der Biologe Bentley Glass (John Hopkins University) als erster amerikanischer Wissenschafter formuliert hat („Science”, 17. Mai): „Das Gefahrenmoment, das von den Atomreaktoren für die Energieproduktion im Frieden ausgeht, ist ein potentiell größeres als jenes der Atombombenexperimente. Dieses Gefahrenmoment wird sich infolge der geplanten Erweiterungen der Atomindustrie noch vergrößern. England plant das Programm für die Atomenergieproduktion innerhalb des nächsten Jahrzehnts zu verdreifachen, und die Euratom-Nationen haben jüngst Pläne für ein 15-Millionen-Kilowatt-Programm angemeldet. Diese Entwicklung wirft ungeheure Schwierigkeiten vor allem für die sichere Ablagerung der radioaktiven Abfallsprodukte auf.” Gleichzeitig aber setzt sie Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen der Industrie voraus, wie sie nur der Staat vorschreiben und überwachen kann.

So erschütternd einprägsam ist diese sich allmählich verbreitende Erkenntnis, wie wenig es allein auch mit der vollkommensten internationalen Atombombenproduktionskontrolle getan ist (selbst wenn China eingeschlossen wäre), daß von einigen Wissenschaftern vor dem JAEC gemeldet wurde („N. Y. T.”, 3. Juni): Man müsse beweisen, daß die Atomexperimente harmlos seien, weil sonst der Mensch vor einer ungeheuren Entscheidung stünde (der er offenbar nicht gewachsen wäre); „er würde sich zu entscheiden haben, ob er überhaupt in das Atomzeitalter eintreten wolle, da jede Verwendung der Atomenergie dahin tendiere, das allgemeine Radioaktivitätsniveau zu erhöhen. Man würde daher ein Werturteil zu fällen haben, ob die Vorteile der Atomenergieproduktion ihr Risiko auf wiegen”.

Nach den oben erwähnten neuesten Erkenntnissen wird die nördliche Hemisphäre von den radioaktiven Ausschüttungen auch aus der Stratosphäre augenscheinlich bevorzugt, und scheinen sich innerhalb dieser bevorzugten Hemisphäre wieder die städtisch-industriellen Gebiete (wie die Metropole New York) nicht zuletzt aus bodenkulturlichen Gründen als besondere Maximalpunkte abzuheben. Diese Hypothese geht aber noch weiter, wenn man dazu die Natur der Böden mit besonderer Anziehungskraft für die Radioaktivität untersucht. So schreibt John Lear in der „Saturday Review” (25. Mai), deren Herausgeber, Norman Cousins, die erste geistige Anregung zu Schweitzers Radioadresse gegeben hat (ib. 18. Mai): „Seien wir nicht naiv. Nehmen wir ja nicht an, die radioaktive Ausschüttung sei primär ein Problem für die Bantus, die Samoaner und die Chinesen. Die stärkste Ausschüttung auf Erden geht direkt auf die USA nieder. Die gesamte Westhälfte des Landes, ausgenommen eine schmale Oase entlang der pazifischen Küste, ist mit alkalischen Böden bedeckt, in denen Radiostrontium den leichtesten Sieg in Gräsern und Getreide über das Kalzium erringt. Wegen ihrer relativen Wachstumsschnelligkeit sind auch die wahrscheinlichsten Opfer der radioaktiven Ausschüttung unsere eigenen Kinder.”

Die alkalischen Böden sind nach amerikanischer Terminologie solche mit ungenügender organischer Materie bei gleichzeitig hohem Natriumgehalt. Daß gerade diese erschöpften Böden, die in den Staublandschaften des Südwestens, im sogenannten „Dust Bowl”, vorherrsche , in Analogie zu den städtischindustriellen Gebieten die stärkste Affinität für die radioaktive Ausschüttung haben sollen, wäre offenbar kein zufälliges Zusammentreffen. Nach der Aussage von Alexander vor dem JAEC sollen die Pflanzen auf Böden mit niederem Kalziumgehalt Radiostrontium am leichtesten absorbieren („N. Y. T.”, 2. Juni). Nach der chemischen Analyse finden sich solche Böden nicht selten gerade dort, wo ein Uebermaß an Stickstoff zugesetzt wurde. Die Einsicht jüngeren Datums, daß Mangelerscheinungen im Boden, aber auch im Organismus, nicht selten einem Exzeß in der Verwendung anderer Nährstoffe zuzuschreiben sind, trägt hier dazu bei, einen Boden mit niederem Kalziumgehalt einfach als einen mit synthetischem Stickstoff überdüngten Boden zu erkennen. Die allermeisten kunstgedüngten Böden sind stickstoffüberdüngt, was freilich nichts anderes heißt, als daß im Verlust der Bodenbalance alle Bodenmineralien unverfügbar werden. Damit käme auch diese Erkenntnis zu dem gleichen Ergebnis wie die frühere: Böden, die der organischen Materie immer mehr entblößt werden, sind dem Radiostrontium am sichersten ausgesetzt, das sich überall dort ansetzt, wo Kalzium in der Bodenbalance nicht mehr seine organische Funktion erfüllt. Das Radiostrontium bewirkt im menschlichen Organismus, in dem es sich mit dem Kalzium vergesellschaftet, Blut- und Knochenkrebs. Es spricht alles dafür, daß es auch im Organismus des Bodens, in dem sich bereits die ersten Symptome des Bodenkrebses auf Grund falscher bodenkulturlicher Praktiken zeigen, am ehesten Aussicht hat, sich festzusetzen, um vom Boden aus über die Kulturpflanzen vorzüglich durch die tierische Milch den Knochenbau des menschlichen Organismus zu erreichen.

Auf einer anderen Auffassung von den Böden mit niederem Kalziumgehalt als Träger des „maximalen Radiostrontium-Menschen” beruht der Plan einer von der AEC finanzierten Expedition in die Dschungeln des Amazonas unter Führung von Kulp, die den Radiostrontiumgehalt in den Böden der südamerikanischen Urwälder und in den Knochen ihrer Bewohner feststellen will („N. Y. T.”, 3. Juni). Die tropischen Böden sind jedoch in einer ganz anderen Weise kalziumarm als die Kulturboden mit Stickstoffüberdüngung. Ob daher, wie vorausgesagt, der Mensch mit dem größten Vorrat an Radiostrontium in den Kochen in den brasilianischen Urwäldern zu finden sein wird, wo doch die südliche Hemisphäre auf alle Fälle eine geringere radioaktive Ausschüttungsrate hat, wird sich erst in einigen Jahren zeigen, wenn jene Expedition wieder zurückkehrt. Falls die ausbalancierten Böden weniger strontiumhungrig sind als die nichtbalancierten, erschöpften, chemisierten Böden (und darauf laufen wohl die bisherigen Erkenntnisse hinaus), dann wird es wohl auch mit den Menschen, die auf diesen Böden leben, ähnlich sein. Diese Annahme würde sich mit der anderen wohl begegnen, daß die städtisch-industriellen Gebiete offenbar die stärkste Anziehungskraft für Radiostrontium besitzen. In diesem Sinne wird auch die Voraussetzung richtig sein (die Kulp macht), daß der unterernährte menschliche Organismus die größere Anziehungskraft ausübt. Nur wird man ihn weit eher aüf dem Asphalt von New1 York als in den Dschungeln des Amazonas finden; !

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