Heiter, Feinsinnig Und Wahnwitzig

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Sein Leben verdeutlicht den hauchdünnen Schleier zwischen der sogenannten Realität und dem sogenannten Wahnsinn. Zur Zeit der k. u. k.-Monarchie war Josef Karl Rädler Porzellanmeister und Leiter eines weltweit tätigen Unternehmens in Wien. 1893 wurde er, wohl veranlasst durch seine Familie, in das damalige "Irrenhaus" im heutigen Narrenturm eingeliefert und später in der Pflegeanstalt Mauer-Öhling untergebracht. Dort einzuchecken, bedeutete meist ein lebenslanges Urteil, denn moderne Therapien waren für diese Patientengruppen noch nicht verfügbar. Doch der damals 49-Jährige ließ sich nicht unterkriegen: Er begann zu malen, zu zeichnen und zu schreiben. In seinen farbigen Bild-Text-Kompositionen vermittelte er romantische Impressionen und dokumentierte feinsinnig die Stimmungen des Klinikalltags. Porträts zeigen seine Mitpatienten beim Spielen, Lesen, Baden, Trinken und Rauchen.

Stereotypien und "Horror Vacui"

Die Ränder seiner Bilder schmückte Rädler mit vegetativen Ranken und ornamentalen Mustern -und mit schwer leserlichen Texten, in denen Poesie, Zeitkritik und moralische Empfehlungen ineinander fließen. Darin sieht sich Rädler als Pazifist und Frauenrechtler, als Mitreformator und Menschheitsapostel, als Hofmaler von Österreich, Siam und Italien. "Schaut her, welchʼ schöner Pfad es ist als lachender Philosoph", ließ er sein Publikum wissen. Doch auf Rädlers Schaffen lastete das Stigma der psychischen Krankheit. Seine detailverliebten Kunstwerke stießen damals auf kein ästhetisches Interesse -und landeten letztlich im Abfall. Erst lange nach dem Tod des Künstlers (1917) wurden sie zufällig entdeckt und 1994 auf Initiative von Leo Navratil, dem Entdecker der Gugginger Künstler, erstmals öffentlich präsentiert. Derzeit sind sie in einer Ausstellung in Wien zu besichtigen und auch zu kaufen; der Preis eines Doppelbildes liegt bei bis zu 13.000 Euro (siehe Bildtext).

Rädlers Oeuvre wird heute als "Outsider-Kunst" ausgestellt. Wie aber denkt man nun über Kunstwerke von psychisch Kranken, und welche Rolle spielen sie in der Kunstgeschichte? Einer der ersten Ärzte, der sich eingehend damit beschäftigte, war der Schweizer Psychiater Walter Morgenthaler. Sein langjähriger Patient Adolf Wölfli litt an chronischer Schizophrenie und schuf in der Pflegeanstalt Waldau bei Bern eindrucksvolles Bildmaterial. "Unendliche Wiederholungen" und der "Horror Vacui" - der Zwang, keine Leerstellen zuzulassen, der genauso in Rädlers Bildern zu bestaunen ist - zählten für den Nervenarzt zu den "schizophrenen Merkmalen" dieser Kunst. Fast zeitgleich mit Morgenthalers Wölfli-Monographie publizierte ein Arzt und Kunsthistoriker in Heidelberg ein wegweisendes Werk: In "Die Bildnerei der Geisteskranken" (1922) versuchte Hans Prinzhorn den menschlichen Gestaltungstrieb anhand von Werken psychisch Kranker zu ergründen. Darin entdeckte er ebenfalls typische Merkmale -etwa Stereotypien, die "wuchernde Üppigkeit der Formensprache" und ein "rücksichtsloses freies Schalten mit der Umwelt".

"Schöpferische Psychose" und Art brut

Die kreative Ader von Psychiatriepatienten stieß damals auf wachsendes Interesse, doch die nationalsozialistische Ausgrenzung von "entarteter Kunst" setzte diesem Forschungsbereich schon bald ein jähes Ende. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber blühte das brach gelegte Feld umso heftiger wieder auf. Und dies unter neuen Vorzeichen: Der französische Künstler Jean Dubuffet sah in den kulturell "unverbildeten" Werken psychisch Kranker und anderer Außenseiter sogar die einzig wahre Kunst und prägte dafür einen Begriff, der noch heute werbewirksam ist: Art brut, also "rohe Kunst". Analog dazu kam es in den revolutionär bewegten 1960er-Jahren überhaupt zur radikalen Umwertung von "Geisteskrankheit", die nun auch als Inbegriff von (erwünschter) Devianz und (unterdrückter) Kreativität gedeutet werden konnte. Es dauerte nicht lange, bis es zu einer "Prinzhorn-Renaissance" (Peter Gorsen) kam und die alte Diskussion über die "schöpferische Psychose" neu verhandelt wurde.

In Österreich war es der Nervenarzt Leo Navratil, der auf dem Anstaltsgelände in Gugging einen eigenen Raum für künstlerisch begabte Patienten schuf und damit den Grundstein für den späteren Erfolg der Gugginger Künstler legte. Er entdeckte, dass die Kunst unter dem Einfluss einer akuten Psychose expressiver und stärker symbolisch ist. Und er ging davon aus, dass die Werke stets im kausalen Zusammenhang mit der Schizophrenie zu sehen sind. Nicht umsonst sprach der Primarius von "zustandsgebundener Kunst" und meinte damit Werke, die nicht im normalen Bewusstseinszustand des Alltags geschaffen werden können, sondern in einem Zustand, der durch einen anderen Grad zentralnervöser Erregung geprägt ist. Sein ärztlicher Nachfolger Johann Feilacher, seit 2006 Direktor des Museum Gugging, vertritt eine andere Ansicht: Er sieht die Kunst der Gugginger wie Dubuffet als eigenständige Strömung, die den Vergleich mit anderen Kunstrichtungen nicht zu scheuen braucht. Schizophrene Formensprache interessiert ihn nicht; die Krankheit der Künstler sei deren Privatsache.

Genie und Wahnsinn

Im aktuellen Kunstbetrieb hört man im Konzept der "zustandsgebundenen Kunst" leicht einen stigmatisierenden Beigeschmack heraus. Kunst auf Krankheit zurückzuführen, ist unerwünscht und großteils sogar verpönt. Auch die Diktion hat sich geändert: Statt von "Geisteskranken" spricht man heute von "psychiatrieerfahrenen" Menschen. Was aber ist so abwegig daran, den zentralnervösen Zustand, also die Gehirnaktivität der Kunstschaffenden mit in Betracht zu ziehen? Das muss noch lange keine Abwertung oder Stigmatisierung bedeuten, wenn man bedenkt, dass Kunst selten aus einem nüchternen Alltagsbewusstsein heraus entsteht. Im Gegenteil, gerade große und mitreißende Kunst erwächst oft aus einem psychophysischen Ausnahmezustand. Laut Nietzsche sind die dionysischen Wurzeln des Wahnsinns und der Raserei aus dem abendländischen Kulturerbe nicht wegzudenken. Und auch wenn eine Diagnose rückblickend oft schwer fällt, haben Krankheiten ganz offensichtlich Spuren in der Kunstgeschichte hinterlassen -etwa in den Bildern von Frida Kahlo (chronischer Schmerz), Vincent van Gogh (Schizophrenie/bipolare Störung), Ernst Ludwig Kirchner (Drogensucht) oder Edvard Munch (bipolare Störung).

Schon die urzeitlichen Schamanen, die ältesten Künstler der Menschheitsgeschichte, mussten sich durch Musik, Tanz und Drogen erst in eine schöpferische Ekstase katapultieren, um ihre Performance mit übernatürlicher Bedeutung aufzuladen. Schamanen hatten intime Kenntnis vom Labyrinth eines zerrütteten Bewusstseins, denn sie mussten vor ihrer "Berufszulassung" eine Initiationskrankheit überwinden. Hatten sie diesen Eignungstest bestanden, wussten sie, dass es einen Weg zurück in die Alltagsrealität gibt. Psychisch kranken Menschen ist dieser Rückweg mitunter verwehrt. Ihre Kunst aber liefert berückende Einblicke in ihr Innenleben -und ist für sie seit jeher ein Mittel der Selbstermächtigung.

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