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Im Zeitalter der Süchtigkeit

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Pater L e p p i c h, der deutsche Prediger, hat das Wort vom Zeitalter der Süchtigkeit geprägt. Die verderblichste und gefährlichste der Süchte ist nach wie vor der Alkoholismus. So hat mit Recht die österreichische Bischofskonferenz die Caritas beauftragt, dem Problem des Alkoholismus in unserem Vaterland als der Ursache vieler leiblicher und seelischer Nöte ihr Augenmerk und die ganze Liebeskraft zuzuwenden. Man mag über den Eifer der Alkoholgegnervereine lächeln, doch kann niemand abstreiten, daß sie allein gegenwärtig den fast aussichtslosen Kampf gegen das Uebel führen. Leider ist der Kampf in Oesterreich noch keine öffentliche Angelegenheit, und auch die kürzlich im österreichischen Rundfunk sehr heftig geführte Diskussion (Funkforum: „Geht es auch ohne Alkohol?") vermochte zwar die öffentliche Meinung ein wenig wachzurütteln, aber es war dies eben nur ein ganz bescheidener Anfang.

Von nachhaltigerer Wirkung erscheint uns die Resolution, die bei der gemeinsamen Tagung der Alkoholgegnervereine am 29. November 1953 in Wien gefaßt wurde. Darin wird gefordert, daß der Kampf gegen den Alkohol eine öffentliche und keine private Angelegenheit sei, daß eine wissenschaftliche Forschungsstätte über die Probleme des Alkoholismus gegründet werde, daß die Gesund- heits- und Schulbehörden des Bundes und der Länder verpflichtet seien, die Bevölkerung über die Schäden des Alkoholismus aufzuklären und für die Alkoholabstinenz einzutreten, daß die Jugend alkoholfrei erzogen, der Jugend- und Erwachsenen sport alkoholfrei gepflegt, die Volksbildung die Aufklärung in weitesten Kreisen betreibt und die leichtfertige Alkoholpropaganda in Rundfunk und Film wirksam bekämpft werde. Es wird fernerhin die Erzeugung alkoholfreien Süßmostes und der Milch zu einem sehr billigen Preis ’gefordert, ein entsprechender Anteif der Alkoholsteuern soll der Bekämpfung des Alkoholismus dienen, die Verabreichung alkoholischer Getränke an Jugendliche soll ohne Einschränkung gesetzlich verboten werden und für die schon süchtig gewordenen Alkoholiker sollen endlich moderne Trinkerheilstätten in Verbindung mit Beratungsstellen und einer sozialen Alkoholikerfürsorge geführt werden.

Im folgenden nun einige Zahlen, die die Situation in unserem Vaterland und anderswo beleuchten sollen.

1952 wurden in Oesterreich für alkoholische Getränke 3,4 Milliarden Schilling ausgegeben. Die gesamten Staatseinnahmen betrugen im gleichen Jahr rund 10 Milliarden. Der Alkoholverbrauch pro Kopf und Jahr läßt sich hier mangels einer verläßlichen Statistik nicht feststellen, er dürfte aber kaum unter dem Alkoholkonsum für Westdeutschland, der gegenwärtig 7 Liter pro Kopf und Jahr beträgt, liegen. In Italien sind es 14 Liter, in der Schweiz 13 Liter, in England 9 Liter, Frankreich hält den unrühmlichen Weltrekord von 34 Liter (ohne den Weinkonsum) auf jeden Erwachsenen. Die Bierproduktion in Oesterreich steigt von Jahr zu Jahr. Während sie 1937 noch 2,7 Millionen Hektoliter beträgt und 1949 erst 2,23 Millionen Hektoliter, erreichte sie 1951 bereits 2,9 Millionen Hektoliter, 1952 schon 3,8 Millionen Hektoliter, während sie 1953 gegen 5 Millionen Hekto liter, das sind rund 90 Liter pro Kopf und Jahr auf den Erwachsenen über 18 Jahre. Die Eigenweinproduktion tritt demgegenüber ganz in den Hintergrund, sie betrug 1953 nur 9,6 Liter pro Kopf der Bevölkerung, gegenüber 4 Liter in Westdeutschland und 126 Liter in Frankreich.

Der Anteil des Alkoholismus an den Verkehrs- und Arbeitsunfällen läßt sich in Oesterreich nicht genau errechnen. Die Polizei pflegt nur solche Fälle in die Statistik einzubeziehen, bei denen der Alkoholgehalt durch Blutuntersuchung zweifelsfrei festgestellt wurde. Wie viele Unfälle ohne Untersuchung noch dazukommen, läßt sich nur ahnen, wenn man die Höhe und den Zuwachs der Verkehrsunfälle überhaupt in Betracht zieht. 1953 gab es in Oesterreich 39.085 Verkehrsunfälle, 26.725 mehr oder minder schwere mit Schäden an Menschen und 900 mit Todesfolgen. Durch den Alkohol wurden davon einwandfrei verschuldet: 1351. Das bedeutet eine Steigerung um 240 Prozent gegenüber dem Jahr 1947. In den USA sind es 23 Prozent der gesamten Verkehrsunfälle, die dem Alkohol zugeschrieben werden, in Frankreich gar 40 Prozent.

Wahrscheinlich sind hierbei auch geringe Alkoholmengen, die ja stundenlang im Körper nachwirken und eine gelockerte Reaktionsfähigkeit verursachen, miteinbezogen. 1 Promille Alkohol im Blut ist ja erst strafbar, doch ist nachgewiesen, daß bei manchen Menschen schon 0,5 Promille (1 Viertelliter Wein oder 1 Krügel Bier oder 2 Gläser Kognak) den „psychologischen Bremsweg" verlängern und die Reaktionsfähigkeit so herabsetzen, daß es Unfälle gibt. Da die meisten Verkehrsunfälle der eigenen Unzulänglichkeit zuzuschreiben sind, kann die Gefahr des Alkohols gar nicht hoch genug eingesetzt werden. Die Wiener Polizeistatistik weist 1953 668 Führerscheinentziehungen wegen Trunkenheit, , davon sieben Frauen, aus. 1949 waren es noch 514, 1948 293, 1946 nur 26.

In Frankreich entfallen 30 Prozent der Ar- beitsunfälle auf das Konto „Alkohol", 15 Prozent der männlichen und 5 Prozent der weiblichen Erwachsenen sind alkoholsüchtig krank. In Westdeutschland werden gegenwärtig 300.000 Alkoholsüchtige in den Fürsorgeämtern „geführt", in Oesterreich sind es 40.000, in Wien allein sollen jährlich 1500

Menschen durch den Alkoholismus schwer ee« kranken. 57 Prozent aller in die Psychiatrische Klinik in Wien eingelieferten männlichen Patienten sind Opfer des Alkohols, 16 Prozent aller weiblichen Patienten. Die Zahl der unter dem Alkoholeinfluß begangenen Vergehen und Verbrechen stieg nach dem zweiten Weltkrieg von Jahr zu Jahr an. 1949 gab es in Wien 391 dem Alkohol zugeschriebene Verbrechen, Gewalttätigkeiten u. a. m., 1953 bereits 571, die Zahl der „Beanstandungen gegen Betrunkene", von einer sehr nachsichtigen Exekutive vorgenommen, geht in die Tausende allein in Wien.

Es ist nicht anzunehmen, daß die gesamten Schäden, die der übermäßige Alkoholverbrauch am Volkskörper verursacht, durch die Alkohol steuer ausgeglichen werden können. Moralisch« Schäden lassen sich nicht mit Geld belieben. Zerschlagene Ehen und Familien, kriminell« Verbrechen, Selbstmorde, Unfälle, Mißgeburten, geringere Arbeitsleistung, schwere Krankheiten sind ja nur die äußeren Erscheinungen. Welch seelische Schäden vor allem unserer Jugend durch all diese Undinge zuwachsen, läßt sich nicht beschreiben.

Der Kampf gegen den Alkoholismus und für alkoholfreie Lebensgestaltung wird — wie schon erwähnt — in Oesterreich vorwiegend mit persönlichen Opfern und voll Idealismus von den Alkoholgegnervereinen und Abstinenzverbänden geführt (Arbeiter-Abstinentenbund, Kreuzbund, Verband abstinenter Katholiken, Bund für alkoholfreie Jugenderziehung, Oesterreichischer Alkoholgegnerbund, Oester- reichischer Guttemplerorden, Verein abstinenter Eisenbahner, Priester-Abstinentenbund, Verein abstinenter Frauen, Die Gemeinschaft, Bund für alkoholfreie Lebensgestaltung). Di« Arbeit dieser Gruppen ist deshalb so erschwert, weil auf der Gegenseite der Wirtschaftsfaktor steht, der Unternehmer, Erzeuger und Verteiler der alkoholischen Getränke. Das Problem ist — von der Wirtschaft her gesehen — durchaus nicht einfach, es kann auch nicht den Alkoholgegnern allein überlassen bleiben, sondern muß von allen Seiten her erst einmal wissenschaftlich geklärt werden. Erst dann können wirksame, das Volkswohl fördernde Maßnahmen der öffentlichen Hand erwartet werden. Die Erfahrung hat jedenfalls gezeigt, daß durch ein allgemeines, völliges oder auch nur beschränktes Alkoholverbot, wie es in den USA und Schweden praktiziert wurde, dem Mißbrauch des Alkohols nicht beizukommen ist. Was aber jetzt schon möglich ist, das dürfte klar genug in den Forderungen der Wiener Tagung der Alkoholgegnerverbände zum Ausdruck gebracht worden sein. Schule und Volksbildner müssen ohne Verzug in den Dienst der Gegenpropaganda gestellt werden. Die Zecherromantik, wie sie in sogenannten „Wiener Filmen" und „Wiener Schlagerliedern" sich kundtut, muß als das hingestellt werden, was sie ist: lächerlich und verderblich zugleich. Wahre Lebensfreude äußert sich jedenfalls ganz anders. Lehrer, Katecheten, Erzieher und vor allem die Eltern sind aufgerufen, der Jugend den Wert der Mäßigkeit und der völligen Abstinenz vorzuleben. Die sozialistischen Jugendverbände haben in dieser Hinsicht vor- bildb.-he Arbeit und Fortschritte zu verzeichnen. Ein Führer der Roten Falken erklärte kürzlich öffentlich: „Nur wer frei ist von jeder Sucht und sich selbst voll und ganz kontrollieren kann, der ist wirklich ein freier Mensch!" Es scheint, daß der Gedanke der christlichen Askese weithin verlorengegangen ist. Der Chri'-t ist in der Entsagung frei. Nicht frei ist er aber in der Liebe, wie sie die frohe Bot-schäft lehrt. Wenn das geistige und körperliche Elend der Massen vor uns auf steht, dann muß es den Christen aus seinem Glauben heraus schon zur Pflege der Enthaltsamkeit drängen.

Im Kampf gegen den Alkoholismus muß freilich vermieden werden, die Askese in Sekti srei ausarten zu lassen. Manche Richtungen der antialkoholischen Bewegung neigen dazu, ihr Ideal zu vergötzen und in ihm einen Religionsersatz zu sehen. Der Christ befleißigt sich der Mäßigkeit oder völligen Enthaltsamkeit, um seinem Streben nach Vollkommenheit einen gesunden Boden zu schaffen. Die Erkrankung des Zeitgeistes, die sich in hektischer Betriebsamkeit, in der mit Ellenbogentechnik fanatisch durchgeführten Sucht nach Erhöhung des Lebensstandards um jeden Preis, in dem technischen „Fortschritt" unter Verkümmerung-der geistigen und seelischen Potenzen äußert und in deren Folgen, der inneren Leere und der Lebensangst, ist nach den Worten Joachim Bodamers, eines bedeutenden deutschen Arztes, durch eine „Therapie, die das menschliche Ich wieder zu gewinnen sucht, die den Menschen zum Einzel-sein-können erzieht und verlorene seelische Kräfte wieder übt", zu heilen.

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