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In der Schreibstube von Chirbet Qumran

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In der „Furche“ vom 28. März d. J. machte ich auf neue aufsehenerregende Handschriftenfunde im Gebiete des Toten Meeres aufmerksam. Damals lagen nur die kurzen Angaben der „Lettres de Jerusalem“ vom 31. Dezember 1952 vor. Inzwischen veröffentlichte einer der Ausgräber, Pater de V a u x OP., einen ausführlichen Bericht mit Photos in der Zeitschrift des Dominikanischen Bibelinstituts in Jerusalem, Revue Biblique 60, 1953, S. 83 bis 106. Weitere Nachrichten über diesen Fund sowie Mitteilungen über eine zweite Grabung in Chirbet Qumran erschienen in der „Picturc Post“ vom 8. August d. J., im „Manchester Guardian“ vom 22. September d, J. und in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (Fernausgabe) vom 13. Oktober d. J.

Chirbet Qumran ist der Name eines Platzes; auf ihm stand ehemals die Siedlung, aus der die Handschriften stammen. Die Ergebnisse der ersten Grabung in Chirbet Qumran (etwa 12 Kilometer südlich von Jericho) wurden von mir in der „Furche“ vom 10. Mai 1952 behandelt.

Diese neuesten Veröffentlichungen ergeben folgenden Tatbestand: Im Jänner und Februar 1952 gruben P. de Vaux und Lan-caster Harding, der Leiter der Antikenabteilung im Königreich Jordanien, im Gebiete des Wadi Mura'at, 18 Kilometer südlich von Chirbet Qumran. Die Grabung dort war noch nicht einmal abgeschlossen — sie wurde im Frühling 1953 von belgischen Ausgräbern zu Ende geführt —, als de Vaux und Harding mitgeteilt wurde, daß die Beduinen im Gebiete von Chirbet Qumran, in der Nähe der ersten Höhle, eine weitere Höhle gefunden hätten. Diese Texte wurden von der Ecole Archeologique Franchise und vom Palästinamuseum aufgekauft. Beide Institutionen rüsteten gemeinsam mit dem Jerusalemer Haus der American School of Oriental Research eine weitere (dritte) Expedition aus, um die Höhlen in der Gegend von Chirbet Qumran zu untersuchen. Allein in einem Umkreis von acht Kilometern wurden — abgesehen von der 1947 von den Beduinen entdeckten und 1949 archäologisch untersuchten ersten Höhle — 25 Höhlen und Felsspalten gefunden, in denen Keramikreste vom selben Typ waren, wie sie schon aus der ersten Fundhöhle bekannt sind. Es gehört also der Inhalt aller dieser Höhlen ursprünglich zu ein und derselben religiösen Gruppe. Zwei dieser Höhlen lieferten weitere Textfragmente. Von den Büchern des Alten Testaments wurden Bruchstücke des Le-viticus in altsemitischer Buchstabenschrift, zwei fragmentarische Handschriften des Exodus, Fragmente des Jeremias-Buches und der Psalmen sowie zwei Fragmente des Buches Ruth und ein fragmentarischer Isaias-Kommentar, außerdem noch eine Reihe von hebräischen und aramäischen Fragmenten nichtbiblischer Bücher gefunden. Neben diesem Material wurden noch drei beschriebene Kupferplatten im Umfang von 30 mal 80 Zentimeter geborgen, die ursprünglich zusammengenietet waren. Eine genaue Lesung dieser Platten war noch nicht möglich, doch dürfte es sich um eine Regel handeln, die am Hauptgebäude der Siedlung von Chirbet Qumran angeschlagen gewesen sein mag. Eine weitere Menge von Handschriften kam z-ur selben Zeit im Wadi en-Nahr (Kidrontal) bei Jerusalem zutage. Ueber diesen Fund wurde in der „Furche“ vom 28. März d. J. eingehend berichtet.

In den Sommermonaten 1952 entdeckten Beduinen im Gebiet von Qumran weitere Höhlen. Aus einer förderten sie neben anderen Fragmenten ein Bruchstück des sogenannten Damaskusdokuments zutage, das, obwohl bisher nur aus mittelalterlichen Abschriften bekannt, aus inhaltlichen Gründen mit den im Gebiet von Qumran gefundenen Texten in Zusammenhang gebracht wurde. In der Nähe dieser Höhle entdeckten Beduinen in einem nahezu vollkommen unzugänglichem Terrain eine weitere — nunmehr fünfte — Höhle mit Manuskripten. Der Fund in dieser Höhle, die in der Zeit vom 22. bis 29. September wissenschaftlich untersucht wurde, ist in mancher Hinsicht noch wichtiger als der Fund von 1947. Reste von 70 Rollen wurden hier geborgen, darunter 38 von alttestamentlichen Büchern in hebräischer, griechischer und aramäischer Sprache. Die hebräischen Handschriften sind zum Teil noch in altsemitischer Buchstabenschrift. Von folgenden Büchern des Alten Testaments wurden größere oder kleinere Fragmente gefunden: Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, Josua, 1. und 2. Samuelbuch, 1. und 2. Königsbuch, Isaias, Jeremias, Ezechiel, 12 Propheten, Psalmen, Lied der Lieder, Ruth, Klagelieder, Prediger und Daniel. Von den deuterokanonischen Schriften wurden Fragmente des Tobiasbuches in hebräischer und aramäischer Sprache geborgen. Auf einem besonderen Blatt sind etliche messianische Weissagungen aus dem Alten Testament zusammengestellt. Außerdem fanden sich noch eine Reihe von bekannten und unbekannten Apokryphen sowie Paraphrasen zu biblischen Büchern. Von den bereits aus dem Fund der Beduinen in der ersten Höhle vom Jahre 1947 bekannten Texten wurden noch Kopien des Sektenkanons und des „Krieges der Söhne des Lichtes gegen die Söhne der Finsternis“ entdeckt.

Im März und April 1953 fand in Chirbet Qumran eine zweite Grabung statt, nachdem die erste im Jänner 1952 auf die Kunde der Funde im Wadi Muraba'at abgebrochen worden war. Ein zweites Gebäude mit einem Grundriß von 30 mal 37 Meter wurde freigelegt. Die Holztrümmer, die sich in einem großen Saal darin befanden, konnten zu einem kleinen Tisch zusammengefügt werden, um den herum eine Bank aus Ziegelsteinen stand. In demselben Raum fanden sich auch noch zwei Tintenfässer, von denen das eine sogar noch einen Rest nichtmetallischer Tinte enthielt. All dies deutet darauf hin, daß sich hier der Schreibraum befand, dem die Texte entstammen. Die Baugeschichte dieses Gebäudes zerfällt in drei Phasen: yL. Has-monäische Zeit. Die Mehrzahl aller Münzen, von denen schon etwa 100 gelesen wurden, stammen aus der Zeit des Königs Alexander Jannai (103 bis 76 v. Chr.). Einige Münzen sind noch älter und andere sind auch jünger und reichen bis in die Zeit des Herodes des Großen. Gegen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr. zerstörte ein Erdbeben dieses Bauwerk, doch wurde es 2. wieder aufgebaut. Die Münzen dieser zweiten Schicht hören mit dem Jahre 70 n. Chr. plötzlich auf. Da diese Bauschicht mit einem Brande endete, liegt die Annahme nahe, daß während des ersten jüdischen Aufstandes gegen Rom auch diese Siedlung zerstört wurde. Der Inhalt ihrer Bibliothek konnte noch rechtzeitig in den Höhlen der Umgebung geborgen werden. 3. Nach dem Jahre 70 n. Chr. wurde das Gebäude von Partisanen wieder aufgebaut, die es als Stützpunkt benützten. Der Schreibraum wurde nicht wieder errichtet. Nach dem zweiten jüdischen Aufstand (132 bis 135 n. Chr.), in dessen Zeit die letzten aufgefundenen Münzen weisen, wurde es nicht wieder aufgebaut.

Durch diese neuerliche Grabung ist man der Datierung wesentlich näher gekommen. Die Texte wurden vor dem Jahre 70 n. Chr. in der Höhle geborgen, müssen also älter sein. Unter den Texten selbst befindet sich aber auch ein Exemplar des Damaskusdokuments, das von der Flucht der Sekte (oder eines Teils der Sekte) nach Damaskus nach dem Tode des Lehrers der Gerechtigkeit berichtet. Somit muß sich sowohl die Flucht nach Damaskus als auch die wahrscheinliche Rückkehr nach Palästina noch vor diesem Zeitpunkt abgespielt haben. Die zahlreichen Münzfunde aus der Zeit des Alexander Jannai machen daher meine Datierung des Lehrers der Gerechtigkeit in diese Zeit, die ich schon in der „Furche“ vom 24. Juni 1950 und 21. April 1951 vorschlug, sehr wahrscheinlich. Da der Professor der Sorbonne, Dupont-Sommer, in seiner neuesten Veröffentlichung, „Nouvaux Apercus sur les Manuscripts de la Mer Morte“, Paris 1953, weiterhin an seiner These festhält, daß der Lehrer der Gerechtigkeit mit dem Messias der Sekte identisch sei und ein quasiChristus vor Christus gewesen sein soll, so muß hier neuerdings darauf hingewiesen werden, daß kein anderer der zahlreichen Forscher, die sich mit dem Funde beschäftigen, dieser Anschauung zustimmt.

Auch die Zuteilung der Sekte, der die Texte entstammen, zum größeren Verband des Essenismus, ist durch die Grabung so gut wie bestätigt. In langen parallelen Reihen befinden sich neben dem Gebäude der Ordensniederlassung mehr als tausend Gräber, in denen keinerlei Grabbeigaben waren. Durch die neugefundenen Apokryphentexte gewinnen wir somit Einblick in das innere Lehrgebäude des Essenerordens, der die frühchristliche Entwicklung; wesentlich bestimmte und auch für die Abspaltung des iuden-christlichen Ebionitismus von der Großkirche die Hauptverantwortung trägt.

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