IN DIE TIEFE der Vergangenheit

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Die Vermessung des Untergrunds liefert immer genauere Bilder: 3D-Technologien versprechen eine radikale Neuausrichtung der Archäologie.

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Die Vermessung des Untergrunds liefert immer genauere Bilder: 3D-Technologien versprechen eine radikale Neuausrichtung der Archäologie.

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Die technologischen Wegbereiter der dritten Dimension weisen nicht immer in die Zukunft, führen nicht zwangsläufig zu Hightech-Visionen einer künftigen Welt. Wendet man den Blick in die Gegenrichtung, eröffnen sie immer feinere Details unserer historischen und prähistorischen Vergangenheit: Laserscanner stoßen auf bislang unbekannte Monumente und Grabanlagen, Ornamente und Schmuckstücke, Schutzwälle oder Gruben, die später zugeschüttet wurden. Durch Computer-basierte Techniken können sie detailgetreu erfasst und minuziös vermessen werden. 3D-Dokumentationen gelten heute nicht nur als Ersatz für viele herkömmliche Ansätze in der Archäologie, sondern auch als Erweiterung des Forschungsfelds. Und in Form von Computer-Animationen lassen sie den Glanz und Zauber versunkener Welten wieder lebendig werden.

"3D-Datensammlungen ermöglichen die bislang vollständigste Dokumentation im Bereich der Gebäude- und Landschaftsgeometrie", sagt die slowenische Archäologin Seta S tuhec, die derzeit an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) forscht. "Zudem erlaubt die Auswertung von 3D-Daten eine genauere und vielfältigere Untersuchung archäologischer Strukturen, und trägt somit zum Verständnis versunkener Gesellschaften bei." Oder sie führt überhaupt zu neuen Erkenntnissen über die rätselhafte Vergangenheit von Orten und Landstrichen.

Hochauflösende Geländemodelle

Das war zum Beispiel in Stonehenge in der südenglischen Grafschaft Wiltshire der Fall: Dort befindet sich eine der weltweit bekanntesten Kultstätten aus der Jungsteinzeit. Gemeinsam mit Kollegen der Universität Birmingham hat ein österreichisches Team um den Archäologen Wolfgang Neubauer das Gelände rund um die Mythen-umrankten Steinkreise letztes Jahr in einem EU-geförderten Forschungsprojekt großflächig durchkämmt: Mittels Laserscanner wurde ein hochauflösendes Geländemodell generiert. Es folgten eine Magnetfeld- und eine Bodenradarmessung. Daraus wurde dann ein dreidimensionales Bild des Untergrunds mit einer Tiefe von bis zu drei Metern erstellt. Gigantische Datenmengen flossen in Landkarten mit überlagerten Bildern ein, die wie ein Animationsfilm bauliche und strukturelle Veränderungen illustrierten. Die alten Spuren der Erbauer der Megalith-Anlage waren ebenso zu sehen wie jene der Camper beim "Stonehenge Free Festival", einem mehrtägigen Konzert, das von 1972 bis 1984 jeweils zur Sommersonnenwende stattfand.

Einige Ergebnisse waren für die Forscher jedenfalls höchst erstaunlich: Der Steinkreis war umgeben von Hunderten Gräbern und Tempeln. Fast überall im vermessenen Areal von 14 Quadratkilometern gab es archäologische Funde, die zum Teil bis zum Jahr 8000 vor Christus zurückreichten. Zahlreiche Hinweise deuten auf ein "Ur-Stonehenge" - ein Areal, das offenbar schon von vielen Generationen rituell genutzt worden war, bevor es zur Errichtung der Steinkreise vor rund 4000 Jahren kam. Nächstes Jahr ist zu diesen neuen Funden in Stonehenge eine Ausstellung im Urgeschichtemuseum Mistelbach (MAMUZ) geplant. Eine ähnliche landschaftsarchäologische Studie wird von Neubauers Team derzeit bei den neolithischen Kreisgrabenanlagen im Kreuttal, nordwestlich von Wolkersdorf im Weinviertel, durchgeführt. Diese datieren in die Zeit um 4800 bis 4550 vor Christus.

"Archäologie ist eigentlich ein vierdimensionales Unterfangen", erläutert Neubauer, Direktor des Ludwig Boltzmann-Instituts für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie. "Im Untergrund finden wir Schichten von Ablagerungen. Bei Grabungen legen wir diese in der umgekehrten Reihenfolge ihrer Entstehung wieder frei und erstellen eine dreidimensionale Dokumentation. Aufgrund des eingeschlossenen Fundmaterials und im Zusammenhang mit weiteren Messdaten können wir dann die zeitliche Abfolge präzisieren." Seit 2001 erfolgt die 3D-Dokumentation am Wiener Boltzmann-Institut mit Laserscannern. In den letzten fünf Jahren werden parallel dazu auch Verfahren der "Computer Vision"(maschinelles Sehen) eingesetzt. Das digitale Archiv umfasse derzeit circa 16 Terabytes, berichtet Neubauer, der auch an der Universität Wien tätig ist. "Derzeit gibt es leider noch kein österreichisches Datennetzwerk; das wird wohl noch ein Weilchen dauern."

Virtuelle Palast-Rekonstruktion

Schauplatzwechsel nach Tell el Daba im Nildelta: Dort befand sich im zweiten vorchristlichen Jahrtausend Avaris, die altägyptische Hauptstadt der Hyksos. Die von der minoischen Kultur inspirierten Kunstwerke der Hyksos stießen bei Archäologen auf besonderes Interesse. Viele Puzzleteile wurden bereits zusammengetragen. Das Bild, das man sich über das Leben in Avaris machen kann, bleibt aber bis heute schemenhaft. Vor diesem Hintergrund haben Forscher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften kürzlich ein Projekt zur virtuellen Rekonstruktion eines altägyptischen Palasts gestartet. Dies ist eine weitere wichtige Anwendung von 3D-Technologien: Basierend auf verfügbaren Daten wird eine dreidimensionale Zusammenschau des Gebäudes gewagt. Genau genommen handelt es sich um ein Puzzle in 4D: Lücken bei den räumlichen und zeitlichen Koordinaten werden hier durch Computer-Algorithmen aufgefüllt.

"Wir werden Standards ausarbeiten und spezifische Software entwickeln, um die bewährten Strategien später auf weitere Großprojekte übertragen zu können", erläutert Edeltraud Aspöck vom ÖAW-Institut für Orientalische und Europäische Archäologie. "Vom freien Zugang sollen nicht zuletzt auch Wissenschaftler weniger reicher Länder profitieren, deren archäologische Schätze lange Zeit in kolonialer Weise verwertet wurden." Ab 2020 soll das Gebäude über das Internet für die internationale Forscher-Gemeinschaft begehbar sein, wobei ein Set an wissenschaftlichen Daten und Texten abrufbar ist. Aber auch archäologischen Laien wird die interaktive Erkundung des Palasts offenstehen: Beim virtuellen Rundgang sollen Informationen über dessen minoische Mosaiken per Mausklick verfügbar sein. Dies macht die archäologischen Schätze letztlich unabhängig von Raum und Zeit. So konnten in einer der ersten 3D-Präsentationen die steinzeitlichen Malereien in der Lascaux-Höhle bewundert werden, obwohl der Schauplatz in Frankreich für Touristen geschlossen war. Und die Attraktivität der Computer-Animationen bedeutet frische Impulse für die Museumsdidaktik.

Seit den 1990er-Jahren haben 3D-Technologien in der Archäologie Einzug gehalten. Heute sprechen viele von einer "digitalen Wende", die das ganze Fach auf neue Beine stellen wird. "Ein Umdenken wird automatisch erfolgen, denn es handelt sich um effiziente Methoden mit hoher Genauigkeit", ist Neubauer überzeugt. In Stonehenge etwa wurde ein Gebiet in 14 Wochen gescannt, dessen Freilegung sonst wohl 100 Jahre in Anspruch genommen hätte. "Bei den sinkenden Forschungsbudgets ist zu erwarten, dass sich die neuen Technologien zwangsläufig durchsetzen werden."

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