Ist der Mensch zu vermessen?

Werbung
Werbung
Werbung

Positive Zugänge und kritische Anfragen zur Biometrie aus philosophischer Sicht

Ein Mann dreht zwölf kurze Stummfilme und verschwindet spurlos von der Oberfläche. Das ist die Geschichte von Hector Mann, die Paul Auster in seinem Roman "Das Buch der Illusionen" erzählt. Hector Mann gilt als tot - wie sonst könnte man sich einen Reim auf sein spurloses Verschwinden machen?

Nun, dass Hector Mann bloß untergetaucht ist und sein äußeres Erscheinungsbild drastisch verändert hat, hätte biometrische Methoden nicht täuschen können. Fingerabdruck, Handgeometrie, Retina Scan, Iris Scan, Face recognition, Unterschriftsanalyse und Stimmanalyse sind nur einige Möglichkeiten, die der modernen Biometrie zur Verfügung stehen. Es geht um das Messen, und es geht um das Leben: Ist es vermessen, zu vermessen?

Biometrie ist Realität

Biometrie ist philosophisch faszinierend, werden doch Fragen der menschlichen Identität berührt. Wer bin ich? Bin ich heute noch derselbe, der ich gestern oder vor zehn Jahren war? Wovon hängt meine Identität ab? Womit ist meine Identität untrennbar verbunden? Biometrisch relevante Merkmale sollten einfach zugänglich sein, im Lauf eines Menschenlebens konstant bleiben und die Person sicher "aussingeln".

Die Erfassung von allgemeinen Körpermerkmalen hat Tradition (z.B. Angabe von persönlichen oder gar besonderen Merkmalen im Pass); eine datenbankmäßige Erfassung erzeugt neue ethische Fragen, werden doch Körpermerkmale hiermit zu einem öffentlichen Gut. Die Frage ist nun nicht, ob Biometrie "erlaubt" sein soll. Bleiben wir realistisch: Ethik ist unter unidealen Bedingungen zu betreiben; es hat keinen Sinn, von Adam und Eva im Paradies zu träumen, die angesichts der überschaubaren Population nicht auf biometrische Maßnahmen zur Identifikation und Authentifikation zurückgreifen mussten. Realistisch gedacht: Biometrie ist nicht zu stoppen und Realität. Coca-Cola verwendet Handscanning-Maschinen anstelle der Zeitkarte, in New Jersey werden Sozialhilfebezieher mit Fingerabdrücken identifiziert, in Illinois wird in einem Gefängnis durch Scannen der Iris sichergestellt, dass der richtige Häftling entlassen wird. Kreditkartenunternehmen studieren die Möglichkeiten, Kreditkartenmissbrauch durch Finger-Scannen einzudämmen... Realistisch gedacht: Es gibt Faktoren in einer komplexen Welt, die es sinnvoll erscheinen lassen, Menschen mittels biometrischer Maßnahmen zu schützen - etwa vor dem vielzitierten "identity theft" und "identity fraud", wo sozialidentitätsbildende Faktoren wie Kreditkartennummer oder Sozialversicherungsnummer dazu verwendet werden, in die Rolle von jemandem zu schlüpfen. Identity theft hat Existenzen ruiniert. Realistisch gedacht: Biometrische Identifikationsmethoden sind relativ einfach, mit geringer Ausbildung einsetzbar und gerade bei großen Datenmengen bzw. Menschenmassen effizient (gerade hier liegt wohl aber auch ein Risiko).

Das Prinzip Leiblichkeit

Ethische Überlegungen zur Biometrie sollten also realistisch bleiben und - einem Rat von Pedro Arrupe in Bezug auf neue Technologien im Allgemeinen folgend - zunächst die Chancen betonen. Unterstützenswert scheinen mir jedenfalls zwei zentrale Prinzipien, auf denen die Biometrie aufbaut: Zum einen das "Prinzip Leiblichkeit" - menschliches Leben ist leibhaft verfasst, und die Identität des Menschen kann nicht von Körperlichkeit abgetrennt werden. Das ist ein Gedanke, der auch bei Thomas von Aquin zu finden ist, der sich mit dem Gedanken frei flottierender Seelen nicht anfreunden konnte. Zum anderen beruht Biometrie auf dem "Prinzip Einzigartigkeit": Jeder Mensch ist einzigartig und führt ein individuelles Leben, das in dieser Form nur dieser Mensch leben kann. Das ist doch durchaus erfreulich, würde ich es doch auch nicht wollen, dass jemand anderer diesen wundervollen Artikel schreibt.

Das Prinzip Einzigartigkeit

In jedem Fall wirft Biometrie ethische Fragen auf. Dass Biometrie ethisch relevant ist, zeigt sich auch im "Code of Ethics", den die International Biometrics Industries Association 1999 verfasst hat. Hier ist neben wettbewerbsethischen Überlegungen von "safeguards for the public" die Rede, also davon, dass Biometrie nur für legale, ethische und nicht diskriminierende Zwecke eingesetzt werden soll. Letzteres ist in gewisser Weise eine Ironie, geht es doch bei der Identifikation stets und unvermeidbar um Unterscheidung und damit Diskriminierung.

Biometrie interessiert also die Ethik. Ich führe neun ethische Fragen an. Da ist die Frage nach dem Einsatz von biometrischen Methoden, der erniedrigend sein kann; das Abnehmen von Fingerabdrücken wird mit kriminellem Verhalten assoziiert und kann, wenn öffentlich etwa bei Einreiseschaltern durchgeführt, Formen der Demütigung erzeugen - hier werden Empfehlungen über die Vermeidung von Demütigung zu entwickeln sein. Da ist die Frage nach der Souveränität des Individuums - was geschieht, wenn biometrische Erfassung verweigert wird? Kann wenigstens sichergestellt werden, dass biometrische Erfassung auf einem "informed consent" entsprechend den Standards moderner medizinischer Behandlung beruht? Da ist drittens die Frage nach dem Informationswert - die biometrische Information könnte per se medizinische Information implizieren; hier ist wohl auf eine entsprechende Abklärung zu drängen.

Wer verwaltet die Daten?

Viertens die Frage nach dem Subjekt der Biometrie - wer führt biometrische Identifikation durch? Große Institutionen wie Flughäfen, Militär, Polizei oder auch Banken werden mit biometrischer Identifikation assoziiert; hier haben wir es immer mit Machtverhältnissen und Zugangsbeschränkungen zu tun. Fünftens die Frage nach der Speicherung der Daten - wo werden die Daten gespeichert? Wer verwaltet diese Daten? Sechstens ist da die sensible Frage nach dem Zugang zu den Daten - wer hat aufgrund welcher Bedingungen "access" zu den erhobenen Daten? Siebtens haben wir es mit der Frage nach Gebrauch und Missbrauch zu tun - wie kann gewährleistet werden, dass erhobene biometrische Daten nur für die ursprünglich angeführten Zwecke verwendet werden und sich nicht etwa stillschweigend neue Funktionen der Daten ergeben? Dieser Aspekt ist besonders delikat, können doch über Querverbindungen zwischen verschiedenen Datenbanken Profile erstellt werden. Die Verknüpfung von Datensätzen ist dann mehr als die Summe der Teile.

Achtens ist die Frage nach dem Umgang mit der Möglichkeit von Maschinenfehlern zu stellen - wer ist die oberste Instanz in der Bestimmung der Identität einer Person? Auch diese Frage hat mit Machtfaktoren zu tun. Neuntens kann man die Frage nach künftiger Manipulierbarkeit von Merkmalen anführen. Nicht nur die Biometrie, auch die plastische Chirurgie und die Gentechnik machen Fortschritte. Dass sich Haarfarben und Augenfarben, Brustgrößen und Sehschwächen verändern lassen, ist nicht mehr aufregend. Und auch nicht, dass man ein neues Gesicht bekommen kann. Wie geht es aber weiter?

Gehen wir davon aus, dass es weiter geht. Die Philosophinnen und Philosophen können vielleicht ein klein wenig bremsen oder wenigstens an die Möglichkeit langsameren Gehens erinnern. Das will ich mit drei "Warnschildern" tun. Das erste Warnschild lautet "Vorsicht Leben!" In der scholastischen Philosophie gab es das schöne Wort "Individuum est ineffabile" - "ein Einzelwesen ist unausschöpfbar". Wir könnten auch sagen: Das menschliche Leben ist unausschöpfbar, es kann nicht vermessen werden. Der Mensch und sein Leben können nicht reduziert werden auf die "digitale Person". Hier können wir von der Philosophie gediegenes Nachdenken über die Person erhoffen. Biometrie vermisst dem strengen Wortsinn nach "das Leben". Das ist natürlich Unsinn, und hier könnten uns auch die Theologinnen und Theologen helfen, wenn sie über "Leben in Fülle" nachdenken oder die Entwicklungsexperten und -expertinnen, wenn sie von "Lebensqualität" sprechen.

Achtung Menschen!

Das zweite Warnschild trägt den Text "Achtung Menschen, nicht Maschinen!" - und damit ist wohl gemeint, dass uns die Kontrolle über die Geister, die wir rufen, nicht entgleiten soll. Das dritte Warnschild lautet wohl "Keine Panik!" - im Zuge der postterroristischen Hysterie hat sich immer wieder gezeigt, dass Panik eine Mutter von Kontrollmanie ist. Gerade in sensiblen Fragen ist besonnenes und realistisches Nachdenken notwendig.

Ist es vermessen, zu vermessen? Nicht, wenn das Messen mit Maß geschieht und wenn das Unmessbare als Unmessbares respektiert wird.

Der Autor ist Professor für Erkenntnistheorie und Religionswissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung