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Ist die Menschheit durch Strahlung gefährdet?

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Immer wieder wird die Oeffentlichkeit von Berichten und Zeitungsmeldungen über die Gefährdung der Bevölkerung durch radioaktive Strahlungen beunruhigt. Es mag daher wünschenswert erscheinen, einmal von wissenschaftlicher Seite her vor einem breiteren Publikumskreis über den heutigen Stand dieser Angelegenheit zu berichten. In dem vorliegenden Artikel soll aufgezeigt werden, wie groß die Strahlungsmengen sind, denen die Menschheit ausgesetzt ist, aus welchen Quellen sie stammen, welche Wirkungen daraus entstehen können, welche Strahlenschutzmaßnahmen möglich sind und was heute bereits tatsächlich auf dem Gebiete des Strahlenschutzes geleistet wird.

Bei den ionisierenden Strahlungen, von denen hier die Rede sein wird, handelt es sich einesteils um Röntgen- und Gamma-Strahlen, also elektromagnetische Strahlung von genügend großer Energie, um feste Materie durchdringen zu können. Anderseits besitzen auch schnellbewegte kleinste Materieteilchen die Fähigkeit, längs ihrer Bahn Ionenpaare (Träger elektrischer Ladungen) hervorzurufen. Von den möglichen Korpuskularstrahlen sind für unsere Betrachtungen nur die Alpha-Strahlen (doppeltionisierte Atomkerne des Heliums) und die Beta-Strahlen (schnellbewegte Elektronen) wichtig. Beide werden von radioaktiven Substanzen ausgesendet. Beta-Strahlen können auch als Sekundärstrahlung von elektromagnetischer Strahlung (Röntgen, Gamma) ausgelöst werden. Um diese Ausführungen nicht zu überlasten, verzichten wir bewußt auf die Besprechung der Neutronen und anderer kernphysikalischer Strahlungen, da der damit beschäftigte Personenkreis relativ klein ist.

Die biologische Wirkung ionisierender Strahlung war seit ihrer Entdeckung vor 60 Jahren Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Forschung. Bei Strahlungseinwirkung auf den Menschen muß man unterscheiden zwischen Einfluß der Strahlung auf das Einzelindividuum und eventuellen genetischen Schädigungen. Betrachten wir zunächst. jdie lętztgenannte Möglichkeit, die Beeinflussung der menschlichen Erbmasse durch Strahlung:

Genetische Schädigungen beruhen auf der Tatsache, daß die Gene,, die Träger der Erbeigenschaften der lebenden Zelle, durch Strahlungseinwirkung verändert werden können. Solche Aenderungen, Mutationen genannt, können sowohl in gewöhnlichen Zellen des Körpers als auch insbesondere in den Keimzellen hervorgerufen werden. Während Mutationen somatischer Zellen nur für die bestrahlte Person Auswirkungen haben können, werden Genmutationen der Keimzellen weitervererbt. Sie besitzen meist rezessiven Charakter, das heißt, sie treten nur dann bei der Nachkommenschaft in Erscheinung, wenn beide Elternteile Träger derselben, in diesem Falle geschädigten, Erbanlage sind. Unsere Kenntnisse auf diesem Gebiet stammen hauptsächlich von Versuchen an Tieren, deren rascher Generationswechsel die Beobachtung der Veränderung der Erbanlagen ermöglicht. Man nimmt heute an, daß bereits ein einziger Treffer, das heißt die Bildung eines einzigen Ionenpaares innerhalb eines Gens, ausreichen kann, um eine Mutation zu verursachen, so daß bereits geringfügige Strahlungsmengen genügen können, um vereinzelte Veränderungen hervorzurufen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein solcher Treffer stattfindet, ist jedoch ganz besonders klein.

Genaue Angaben über die tatsächliche Größe dieser Trefferwahrscheinlichkeit sind schwierig zu machen, da die Extrapolation vom Tierversuch auf den Menschen nur näherungsweise gemacht werden kann und weil die Mutationen auch andere Ursachen haben können, wie zum Beispiel chemische Einflüsse oder Hitze. Man ist jedoch der Ansicht, daß alle strahlungsinduzierten Mutationen beim Menschen schädlichen Charakter besitzen und daß man bei der Berechnung der Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Mutationen über sämtliche, auch noch so kleinen Strahlendosen summieren muß, die ein Mensch bis zu seinem 30. Lebensjahr (mittleres Alter einer Generation) empfangen hat. Naturgemäß denkt man dabei in erster Linie an die den Körper durchdringende Gammaoder Röntgen-Strahlung, da die leicht absorbierbaren Alpha- und Beta-Strahlen nur in den seltensten Fällen die Keimzellen zu erreichen vermögen. Laut Statistik beträgt die Zahl sämtlicher genetischer Defekte in den USA zwei Prozent aller Lebendgeburten. Abschätzun-

gen ergeben, daß bei einer durchschnittlichen Bestrahlung der Keimzellen mit einer Dosis von 50 bis SO Röntgeneinheiten (abgekürzt r) pro Individuum in 30 Jahren die Zahl der genetischen Schädigungen verdoppelt würde. (Das bedeutet, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, eine riesige Strahlungsmenge, die, wie wir später sehen werden, bei weitem nicht erreicht wird.) Die Einheit 1 r ist ein Maß für elektromagnetische Strahlung und bedeutet jene Strahlenmenge, die in einem Kubikzentimeter Luft rund 2 mal 10® Ionenpaare erzeugt.

Zur Schädigung von Einzelpersonen sind im Gegensatz zu dem bisher Gesagten viel größere Strahlenmengen nötig. Man nimmt an, daß bei Ganzkörperbestrahlung mit Röntgen- oder Gamma-Strahlung eine Strahlendosis von 400 r, innerhalb eines kurzen Zeitraumes verabreicht, bei 50 Prozent der Bestrahlten den Tod bewirken würde. Bei Bestrahlung begrenzter Körperpartien zu therapeutischen Zwecken können hingegen Strahlendosen von einigen tausend r angewendet werden. Die Strahlendosis, die ein Patient während einer diagnostischen Röntgendurchleuchtung erhält, wird mit 5 bis 10 r angegeben.

Korpuskularstrahlen (Alpha- und Beta-Strahlen) können zufolge ihrer geringen Eindringtiefe in menschliches Gewebe nur dann zur Wirkung kommen, wenn die Strahlenquelle unmittelbar mit der Haut in Berührung gebracht wird bzw. wenn sich die radioaktive Substanz im Inneren des Körpers befindet. Ihre lokale Wirkung und ihre zerstörende Kraft ist dann allerdings besonders stark. Radioaktive Substanzen, die auf dem Atmungswege, durch Verschlucken oder durch Injektion in den Organismus gelangen, können dort sehr verschiedene Schicksale erleiden, je nach der chemischen Natur der verwendeten Isotope. So können zum Beispiel Natrium- oder Phosphorisotope aus dem Körper relativ rasch im Rahmen des Stoffwechsels wieder ausgeschieden werden. Andere Substanzen, wie zum Beispiel Jod, Kalzium, Strontium oder Thorium werden in bestimmten Organen gespeichert und können unter Umständen auch sehr lange einwirken.

Bei Bestrahlung mit sehr kleinen Dosen sind an dem einzelnen biologischen Objekt überhaupt keine Veränderungen beobachtbar. Daher war es möglich, eine sogenannte Toleranzdosis festzusetzen, das heißt eine obere Grenze jener Strahlungsmenge, die für das Einzelindividuum bei Dauerbestrahlung als gefahrlos bezeichnet werden kann. Sie wurde von dem alljährlich zusammentretenden Internationalen Kongreß für Strahlenschutz zu 300 Milliröntgen (mr) pro Woche festgelegt, was besagt, daß auch dauernde Beschäftigung mit Röntgenstrahlen oder radioaktiven Substanzen als ungefährlich angesehen werden darf, sofern die oben angegebene Strahlendosis nicht überschritten wird. Trotzdem wird empfohlen, daß Personen, die häufig mit ionisierender Strahlung zu tun haben, ständig unter ärztlicher Kontrolle stehen sollen.

Von dem Kongreß für Strahlenschutz wurde überdies eine Tabelle herausgegeben, die für sämtliche radioaktiven Isotope die maximale Menge angibt, die in Atemluft, Nutz- und Trinkwasser enthalten sein darf, ohne daß Schädigungen befürchtet werden müssen.

Unter der Voraussetzung, daß alle Vorsichtsmaßnahmen streng eingehalten werden und daß prinzipiell darauf geachtet wird, jede unnötige Bestrahlung von Personen zu vermeiden, stellt die Beschäftigung mit ionisierender Strahlung kein größeres Gefahrenmoment dar als etwa der Umgang mit chemischen Giften. Wird der Strahlenschutz von erfahrenen und gewissenhaften Spezialisten geleitet, dann sind alle Probleme, die sich bei Verwendung von Radioisotopen, bei der Aufstellung von Reaktoren, beim Fortschaffen von radioaktiv verseuchten Abwässern oder Abfallmaterial usw. ergeben, in einer Weise lösbar, daß für die Bevölkerung keine Gefährdung daraus entstehen kann.

Wie verhält es sich nun mit der so gefürchteten radioaktiven Verseuchung der Atmosphäre durch Versuchsexplosionen von Atombomben? Von dem radioaktiven Material, das durch die Gewalt der Explosion emporgeschleudert wird, kann nur jener Teil in größerer Entfernung vom Explosionszentrum wirksam werden, der in Form von kleinen und kleinsten Staubpartikelchen in der Luft suspendiert bleibt. Durch den Wind werden die radioaktiv verseuchten Luftmassen von ihrem Ausgangsort fortgetrieben und zerstreut, Regen vermag diese Staubteilchen ebenso wie die natürlichen radioaktiven Stoffe aus der Atmosphäre auszuwaschen und auf die Erde zu bringen. Bei Detonationen von Wasserstoffbomben wird der größte Teil des radioaktiven Materials besonders hoch gerissen und gelangt in sehr große Höhen der Stratosphäre. In diesem Falle kann der radioaktive Staub mehrmals den Erdball umkreisen, bevor er die Erdoberfläche erreicht. Beobachtungen zeigen, daß das Niedersinken sehr langsam erfolgt, so daß nur etwa 20 Prozent des Staubes pro Jahr auf die Erde niederfällt. Seine Radioaktivität ist infolge des radioaktiven Zerfalls dann schon sehr stark vermindert.

Die radioaktiven Niederschläge werden in zahlreichen Versuchsstationen in den verschiedensten Ländern der Erde laufend kontrolliert. In den USA allein sind weit über hundert solcher Stationen eingerichtet, die, netzartig über das Land verteilt, die Menge und chemische Zusammensetzung der Niederschläge bestimmen. Aus den Berichten dieser Stationen ist zu entnehmen, daß die gemessenen Aktivitäten bei Entfernungen von mehr als 300 Kilometer vom Explosionszentrum im allgemeinen weit geringer sind als der durchschnittliche Wert der natürlichen Bestrahlung. Höhere Intensitäten als der natürliche Wert wurden nur kurzfristig an vereinzelten Punkten festgestellt. Messungen über den japanischen Inseln scheinen ein ungünstigeres Bild zu ergeben, besonders deshalb, weil sich hier nicht nur die amerikanischen Versuche auf Bikini, sondern überdies auch die russischen Atomexplosionen bemerkbar machen. Die angegebenen Meßwerte erreichen in vereinzelten Fällen die Größenordnung der festgelegten Toleranzdosis. Eine Ausnahme bildet das unglückliche Fischerboot „Fukuryu Maru”, das sich zum Zeitpunkt der Versuchsexplosion am 1. März 1954 in unmittelbarer Nähe des amerikanischen Versuchsgebietes befand und noch von dem direkten Aschenregen getroffen wurde. Laut japanischen Angaben empfing die Mannschaft des Bootes eine Strahlendosis von insgesamt 200 r innerhalb von 14 Tagen.

Messungen auf dem europäischen Festland liefern äußerst niedrige Werte, und es ist weitgehend die überaus große Empfindlichkeit der Meßmethoden für radioaktive Strahlung, die den Nachweis des radioaktiven Materials in der Luft in unseren Gegenden überhaupt erst möglich macht.

Es erscheint jedoch äußerst wünschenswert, das Kontrollsystem für ionisierende Strahlungen aller Art weiterhin auf der ganzen Welt zu verstärken. Aus diesem Grunde wurde von der UNO ein Komitee eingesetzt, dessen Aufgabe es ist, die Strahlungsmenge, der die Menschheit an jedem Punkte der Erde ausgesetzt ist, zu ermitteln.

Aus zwei zusammenfassenden Artikeln, die vom Medical Research Council von Großbritannien und von der Akademie der Wissenschaften der Vereinigten Staaten herausgegeben wurden, entnehmen wir im folgenden einige Daten, welche die derzeitige Lage auf diesem Gebiete beleuchten sollen. Die Wirkung der folgenden Strahlenquellen werden in erster Linie zusätzlich zur natürlichen Bestrahlung in Betracht gezogen: Röntgen- und Isotopendiagnose, Strahlentherapie, berufsmäßige Beschäftigung mit ionisierender Strahlung, Röntgenapparate in Schuhgeschäften, Bestrahlung durch Leuchtziffern von Uhren und Armaturenbrettern, Fernsehapparate und radioaktive Niederschläge. Die Berechnung der Strahlendosis, bezogen auf die gesamte Bevölkerung, ist naturgemäß recht schwierig, so daß die folgenden Zahlenangaben nur als beiläufige Anhaltspunkte gelten können. Außerdem besagt die Angabe von Durchschnittsziffern, da ein Teil der Bevölkerung gar keiner zusätzlichen Strahlung ausgesetzt war, daß eine Reihe von Personen bedeutend höhere Strahlendosen erhalten hat.

Beiden Berichten zufolge wird der größte Beitrag an Bestrahlung durch die Röntgendiagnose geliefert. Während in England für die auf die Keimdrüsen entfallende Dosis 22 Prozent der natürlichen Dosis angegeben wird, liegen die amerikanischen V/erte bei etwa 100 Prozent oder 3 r pro Generation (30 Jahre).

Der Berechnung der Gamma-Dosis pro Individuum, hervorgerufen durch künstlich radioaktive Niederschläge, liegen Annahmen zugrunde, wie lange der Mensch sich durchschnittlich im Freien aufhält und welcher Wert für Abschirmung der Strahlung durch Gebäudewände und -dächer einzusetzen ist. Die Gesamtdosis, die für alle Atombombenversuche der Welt, vergangene wie zukünftige, berechnet wird, vorausgesetzt, daß die weiteren Versuche in demselben Ausmaße fortgesetzt werden wie bisher, beträgt in 30 Jahren pro Individuum in Amerika 0,08 5 r, in England — und dieser Wert dürfte auch für die anderen europäischen Staaten gelten — hur 0,026 r. Einem’anderen Bericht zufolge •beträgt die amerikanische Dosis 0,1 r, die europäische 0,01 r für denselben Zeitraum. Da diese Werte größenordnungsmäßig und nicht zahlenmäßig aufzufassen sind, kann diese Liebereinstimmung als sehr befriedigend bezeichnet werden. Wenn man also 3 r pro Generation als natürliche Strahlungsdosis annimmt, dann würde die zusätzlich durch radioaktive Niederschläge erzeugte Strahlenmenge etwa 1 bis 3 Prozent dieser Dosis betragen.

Die Strahlenmenge, die durch berufsmäßige Beschäftigung einer gewissen Anzahl von Personen mit ionisierender Strahlung auf die Gesamtbevölkerung entfällt, wird in dem englischen Bericht mit 1,7 Prozent angegeben. Dies ist sehr wenig, wenn man bedenkt, daß laut Bericht der Betrag durch Leuchtziffern von Armbanduhren, die von jedermann bedenkenlos getragen werden, ebenfalls ein Prozent der natürlichen Dosis ausmacht. Die Röntgenapparaturen in Schuhgeschäften, die Strahlendosen bis zu 12 r pro Stunde liefern können, sind zwar für die ständig damit beschäftigte Person durchaus nicht ungefährlich, liefern aber, für die gesamte Bevölkerung Umgerechnet, nur den kleinen Beitrag von 0,1 Prozent der natürlichen Dosis. Auch die Bestrahlung am Fernsehapparat macht weniger als 1 Prozent aus. Den Berichten sind keinerlei Angaben zu entnehmen über die durchschnittliche Strahlenmenge, welche die Keimdrüsen infolge therapeutischer Bestrahlungen geliefert bekommen Es ist jedoch anzunehmen, daß dieser Beitrag relativ klein sein wird, da Bestrahlung der Keimdrüsen medizinischerseits nach Möglichkeit vermieden wird und Strahlenbehandlungen in der Mehrzahl an Personen vorgenommen werden, die nicht mehr wesentlich zum Bevölkerungszuwachs beitragen.

Abschließend läßt sich folgendes sagen: Bei gewissenhafter Anwendung aller Schutzvorschriften bestehen keine Gefahren einer gesundheitlichen Schädigung des Einzelindividuums sowie der Bevölkerung der Erde überhaupt. Andere schädigende Einflüsse, denen die moderne Menschheit ausgesetzt ist, wie zum Beispiel Abgase und Abwässer chemischer Fabriken. Auspuffgase von Automobilen oder Zigarettenrauch sind möglicherweise viel bedenklicher. Von Atombombenversuchen ist vorläufig noch keine unmittelbare Gefahr zu befürchten. Vor allem kann mit sich mit gutem Gewissen der großen Vorteile bedienen, die durch friedliche Nutzung der Atomenergie und die Anwendung radioaktiver Isotope geboten werden.

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