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Judenschema / Religionsfreiheit

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Zwischen den Erklärungen des Konzils zur Judenfrage und der Erklärung zur Religionsfreiheit soll ein Zusammenhang bestehen? Nicht wenige werden über den Gedanken überrascht sein. Die Erklärung zur Judenfnage ist bekanntlich Teil der Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen: Weder dürfe das ganze jüdische Volk von damals oder heute für den Tod Christi verantwortlich gemacht werden noch seien Äußerungen des Antisemitismus mit dem Geiste des Evangeliums vereinbar. Das Recht der Religionsfreiheit erscheint in der darauf bezüglichen Erklärung als natürliches Grundrecht des Menschen, das im staatlichen Recht seine Anerkennung zu finden habe, nämlich das Recht eines jeden Menschen, privat und öffentlich in Fragen der Religion seiner Gewissensüberzeugung zu folgen.

Man braucht nur zu bedenken, daß noch lange nicht zweihundert Jahre vergangen sind, seit die letzten Urteile der Inquisition gefällt und vollzogen worden sind, um die Einmaligkeit des Schrittes der Kirche zu ermessen, wenn sie sich heute für das Recht auf Religionsfreiheit ausspricht. Religiöse Freiheit ist nicht gleichbedeutend mit religiöser Toleranz. Diese bezieht sich zunächst nur auf das zwischenmenschliche Verhalten. Anders wenn das Prinzip der Toleranz sehr weit gefaßt und auch als Norm für die staatliche Rechtssetzung betrachtet wird, weil ihr dann eine Verpflichtung der Gesellschaft zum Schutz der religiösen Freiheit entspricht.

Tatsächlich ist die Religionsfreiheit als Menschenrecht seit längerer Zeit Bestandteil eines sehr großen Teiles der Verfassungen der freiheitlichen Staaten; nicht so der totalitären, die zwar auch in ihren Verfassungen vom Recht auf Freiheit der privaten Religionsausübung sprechen, jedoch kein Recht auf Freiheit der Betätigung religiöser Überzeugung im öffentlichen Bereich kennen.

Gewissensfreiheit als Grundrecht

Es müßte überraschen, daß in der Frage der Religionsfreiheit sich auf dem Konzil überhaupt abweichende Meinungen finden konnten. Das Recht auf die Religionsfreiheit folgt notwendig aus dem unbestreitbaren Recht auf die Gewissensfreiheit. Schon m der ersten Auflage des „Naturrechts“ (1950) habe ich daher die Religionsfreiheit in dem heute auch in der Konzilserklärung festgehaltenen Sinn aus dem Urrecht des Menschen auf die Gewissensfreiheit gefolgert. Das Recht der Gewissensfreiheit besagt, daß der Mensch rechtlicherweise nicht gezwungen werden kann, zu tun, was er als sittlich unzulässig erachtet, und rechtlicherweise nicht verhindert werden kann, zu tun, was er seiner Gewissensüberzeugung nach für geboten hält, solange damit keine Verletzung von Rechten anderer oder der öffentlichen Ordnung einhergeht.

Daraus folgt das Recht auf die freie private Betätigung der religiösen Überzeugung, vor allem in dem Sinn, daß keinem Menschen daraus persönliche Nachteile durch gesellschaftliche Mächte erwachsen dürfen; es folgt weiters das Recht auf unbehindertes öffentliches Eintreten für diese Uberzeugungen innerhalb der eben erwähnten, der Gewissensfreiheit gesteckten Grenzen, und es folgt, daß das Recht auf Religionsfreiheit auch in einer Gesellschaft zu wahren ist, die sich durch ihre Tradition im Besitze der wahren Religion und sich dieser verpflichtet weiß. Wenn die Gewissensverantwortung des Menschen, sein sittliches Wesen, als Begründimg seiner Würde und allen Rechts feststeht dürfte über das natürliche Recht auf Religionsfreiheit im dargelegten Sinn kein Zweifel bestehen.

Das Rechtsbewußtsein ändert sich

Warum konnte dieses Recht bis in die allerneueste Zeit so sehr im Dunkeln bleiben? Die heutige Naturrechtslehre gibt die Antwort. Die neuzeitliche und heutige Anerkennung des Rechts auf Religionsfreiheit ist das Ergebnis einer Entwicklung des Rechtsbewußtseins. Der Entwicklungsgedanke gilt nicht nur für den biologischen Bereich, sondern auch für den geistigen, besonders in dem Sinn, daß auch das sittliche und rechtliche Bewußtsein der Menschheit und der einzelnen Gesellschaften allmählich zu neuen Einsichten gelangt. Im sittlichen Bereich: die Lehren eines Sokrates, eines Zarathustra, eines Konfuzius stellen Stufen der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins der Menschheit dar. Hinsichtlich der Ethik Jesu ist natürlich der „ganz andere“ Ursprung festzuhalten, aber doch so, daß auch sie im Gesamtzusammenhang der Entwicklung des sittlichen Bewußtseins der Menschheit zu sehen ist. Im Bereich des Reohtsbe-wußtseins ist die Tatsache der Entwicklung am offenbarsten in der heutigen Anerkennung der persönlichen, politischen und sozialen Menschenrechte.

Davon wußte das Mittelalter nur wenig. Religionsfreiheit im Sinn der Konzilserklärung war ihm völlig unbekannt. Darum konnte es zum Versuch der Bekehrung von Völkerschaften durch das Schwert kommen. Am Beginn der Neuzeit gut noch der Grundsatz, daß der Landesfürst die Landesreligion bestimmt (cuius regio, eius religio). Wie völlig die Antike vom Prinzip der Staatsreligion beherrscht war, ist bekannt: die Anerkennung des Rechts auf die Gewissensfreiheit im religiösen Bereich mußte durch den Tod von Hunderttausenden von Märtyrern erkauft werden. Gerade damit sind aber vom Christentum selbst entscheidende Impulse für die Entwicklung der Idee der Religionsfreiheit als der allen zeitlichen Mächten überhobenen Stellung des religiösen Gewissens ausgegangen. „Alle antike Staatsauffassung ist seit Jesus ein für allemal abgetan“ (Scheler). Offenbar erheben sich mit alldem zahlreiche und verwickelte Fragen der Geschichtsphilosophie, auch der Geschichtstheologie, die bisher kaum Beachtung gefunden haben.

Staat und Religion waren eins

Die Einsicht in die in der Gewissensfreiheit begründete Religionsfreiheit ist ein Spätprodukt der Entwicklung des sittlich-rechtlichen Be-wußseins der Menschheit. Eine Kollektivschuld des Judenvolkes ist ausgeschlossen, weil auf der damaligen Entwicklungsstufe des Rechtsbewußtseins die Idee der Religionsfreiheit innerhalb der religiös geschlossenen Gemeinschaft nicht gegeben war, vielmehr für die große Masse des jüdischen Volkes die Verbindlichkeit der durch das „Gesetz“ vorgegebenen Religion für alle Glieder der Gemeinschaft als unzweifelhaft feststand. In diesem Sinne bestand auch in der Theokratie des Volkes Israel eine kraft positiven Rechts in unbedingter Geltung stehende Staatsreligion. Die Unterscheidung zwischen dem Eigensten dieser Religion und seiner Interpretation durch die religiös-politische Führerschaft war für die Masse des Volkes unmöglich. Auch aus diesem Grunde kann von einer Schuld des Gesamtvolkes keine Rede sein.

Das höchst Interessante und fast Paradoxe in unserer Frage besteht demnach darin, daß, wenn damals die Entwicklungsstufe des heutigen Rechtsbewußtseins erreicht gewesen wäre, es gar nicht hätte zum Opfertode Christi kommen können, weil die Religionsfreiheit, wie sie das Konzil versteht, die Verurteilung Christi verhindert hätte.

Die Tragik der Mission

Kurz sei noch erwähnt, daß die Ethik mit der Stellung der Religion in der Entwicklung der Kulturen ganz allgemein eine Tragik im eigentlichsten Sinn verbunden sieht. Wir sprechen von der Entwicklung der Kulturen in der vorpluralistischen Gesellschaft. In dieser ist Kultur zu verstehen als Lebensform eines Volkes mit einem ihr eigenen Ethos und der Religion als dessen maßgebenden Wurzelgrund. Das Bestehen und die Art der fraglichen Tragik wird einem sofort klar, wenn man sich fragt: Ist ein Volksstamm, dem seine religiössittlichen Überzeugungen heilig sind und dem sie als Lebensgrundlage für sein ganzes völkisches Sein erscheinen, berechtigt, jene abzuwehren, die, von außen kommend, die Uberzeugungen untergraben und durch ganz andere ersetzen wollen? Wird die Herrschaftsgewalt vor dem sittlichen und rechtlichen Gewissen schuldig, wenn sie zur Abwehr im Bewußtsein der Verantwortung für die „heiligsten Güter“ ihres Volkes sich zur Anwendung äußerster Mittel gehalten weiß? Sind anderseits aber nicht auch jene im Recht, die alle gewaltlosen Mittel anwenden, um einen solchen Volksstamm von seinem Irrglauben abzubringen mit der unvermeidlichen Folge, daß sich auch das Ethos seiner gesellschaftlich-kulturellen Lebensform umwandeln muß? Man sieht, diese Tragik der Kultur nach der religiös-sittlichen Seite ist die, welche in Tausenden von Fällen die Todesbereitschaft derer gefordert hat, die zur Glaubensverkündigung in solchen Situationen berufen waren. Es ist die Tragik, der sich der „Missionar“ gegenübersah, und die von ihm die Bereitschaft zum „Martyrium“ forderte. Es ist Tragik im eigentlichsten Sinn, da nicht Faktoren in Frage stehen, die sich der Verantwortung entziehen, vielmehr stehen sich Verantwortung und Verantwortung selbst gegenüber.

Die Chance der Kirche

Offenbar wird die Situation sich völlig ändern, wenn die vom Konzil vertretene Religionsfreiheit eine Wirklichkeit in den Verfassungen und den Rechtsordnungen der Staaten sein wird. Die Erklärung der Kirche zur Religionsfreiheit steht in enger Beziehung zur Tatsache, daß die Toleranz gegenüber Gewissensüberzeugungen und damit die welt-anschaulich-pluralistische Gesellschaft selbst eine Folge der Entwicklung des Rechtsbewußtseins ist. Mit der Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit anerkennt die Kirche dieses Prinzip der Toleranz als Grundhaltung der heutigen welt-anschaulich-pluraliistischen Gesellschaft. Sie gibt der weiteren Entwicklung zugleich einen neuen Anstoß. Dabei ist sie auch bestimmt von der Zuversicht, daß sich das der Vernunftnatur des Menschen eigene sittliche und rechtliche Gewissen überall durchsetzen, daher auch dort Raum für die religiöse Freiheit schaffen wird, wo diese heute noch nicht in Geltung steht, und damit der Kirche selbst für die Erfüllung ihres Sendungsauftrages neue Wege auftun wird.

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