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Kein Bett fur Schwerkranke...

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Am Tag, da Wiens rauschendstes Ballfest in Luxus und frisch importiertem Nelkenschmuck in Szene ging, waren bei der Wiener Betten-zentrale 439 Menschen für ein Spitalsbett vorgemerkt: Hochfiebernde, zum größten Teil ohne Pflege, alt und allein, in ungeheizten Räumen, oft tagelang schon ohne richtige Verpflegung und vor allem ohne Hoffnung, in ein Spital zu kommen. Alljährlich erreicht um diese Zeit die Spitalsbettenmisere ihren Höhepunkt, alljährlich aber wird dieses Problem brennender und für viele Menschen zur lebensgefährdenden Bedrohung der Existenz.

Unausdenkbar, was geschähe, sprängen nicht alljährlich hier die gewöhnlichen praktischen Ärzte in die Bresche. Für ein Honorar, das von Seiten der Gebietskrankenkassen pauschal bezahlt wird, betreuen sie die Kranken, machen Dutzende von Hausbesuchen zusätzlich, unentgeltlich und versorgen die Kranken, die nach ihrem Zustand unbedingt in ein Spital gehörten. Ohne daß diese oft ungeheure Mehrarbeit irgendwie erwähnt oder gewürdigt würde, werden sie jedes Jahr mit den Wellen von Erkältungskrankheiten und grippalen Infekten fertig, verhindern damit den Zusammenbruch der gesundheitlichen Versorgung — und ermöglichen damit leider auch die weitere Verschlampung des brennenden Problems.

Jetzt allerdings rüsten die Ärzte zum Kampf. Sie wollen nicht mehr für zehn Schilling pro Monat einen Patienten betreuen. Man hat allerdings längst zugegeben, daß diese Honorierung untragbar ist, und die geforderte Erhöhung auf rund sechzehn Schilling pro Monat anerkannt. Doch es sei, sagt man, kein Geld dafür da, und so will man die Ärzte weiter vertrösten. *

Die soziale Sicherheit des modernen Menschen wurde blutig und unter größten Opfern erkämpft. Der Mensch von heute weiß das nicht mehr, er nimmt das alles mit der Einstellung eines verwöhnten Kindes hin, er betrachtet es als sein gutes Recht, und für viele ist die ganze Sozialversicherung nur dazu da, um mühelos auf Kosten der anderen zu leben. Man hat keine Ahnung, was dieser soziale Fortschritt wirklich kostet, man weiß nicht, was ein Tag in einem Spital kostet, wie hoch die Kosten einer einfachen Blinddarmoperation sind, man weiß nicht (und hundertfache'Befragungen haben es bewiesen), daß der Arzt für Krankenbesuche praktisch nicht honoriert wird und — ein wohl einzig dastehendes Faktum — daß ihm, wenn er auf Wunsch des Patienten zuviel Medikamente verschreibt, die Mehrkosten von seinem Honorar abgezogen werden. Die Politiker hüten sich ängstlich, davon zu sprechen, und sind längst mitschuldig daran geworden, daß der Begriff der Sozialversicherung heute völlig mißverstanden wird.

Es ist natürlich bequem und vom parteipolitischen Standpunkt aus ein ausgezeichneter Stimmenfang, wenn man der breiten Masse jede Verantwortung abnimmt und sie in der Verwirklichung eines mühelosen, arbeitsarmen, von Freizeit übersättigten Lebens das einzig anzustrebende Ziel erblicken läßt. Ja, der Mensch von heute weiß gar nicht (und dazu gehören erstaunlicherweise sogar die halbwegs Gebildeten), daß er pro tausend Schilling Verdienst im Monat lediglich knapp zwanzig Schilling für die Krankenversicherung bezahlt. Dafür hat er in Österreich: für sich und alle seine Familienmitglieder kostenlose Behandlung durch den praktischen Arzt und jeden beliebigen Facharzt, kostenlose Medikamente und kostenlosen Spitalsaufenthalt. (Die Krankenscheingebühr von fünf Schilling pro Quartal, also monatlich 1,66 Schilling, und die starre Medikamentengebühr von zwei Schilling haben in keiner Weise dazu beigetragen, jene unerläßliche Erkenntnis zu gewinnen, wie teuer die moderne Medizin geworden ist.)

Ein Spitalsbett aber kostet pro Tag rund einhundertfünfzig Schilling. Eine einfache Blinddarmoperation kommt auf zweitausend Schilling und die Medikamente für die Behandlung einer Lungenentzündung kosten ebenfalls hunderte Schilling. Wie wenig sich der moderne Mensch darüber Gedanken macht, erkennt man am besten dann, wenn man Spitalsentlassene untereinander reden hört. Kein Wort von der Schwere der Krankheit, der aufopfernden Pflege des Personals, kein Wort über die mutmaßlichen Kosten der Medikamente. Man spricht lediglich darüber, daß man in diesem Spital täglich zweimal Fleisch bekomme, in jenem aber gar nicht gut gekocht werde, es dreht sich somit alles — es ist erstaunlich, aber wahr — nur um die Verpflegung.

Was für ein schrecklicher Mißbrauch allein wird, da man ja für einen Spitalsaufenthalt nichts bezahlen muß, allein mit den Spitalsbetten getrieben! Wer es nur ein wenig geschickt anpackt, kann sich mit einer Alterskrankheit eine Spitalseinweisung verschaffen. Er erspart sich das Geld, das er ohnedies zum Leben braucht, muß im Winter nicht heizen, liegt in einem warmen Krankenzimmer, hat Gesellschaft und Essen. Wie oft schon wurden diese Zustände klar analysiert, wie genau weiß man doch darüber Bescheid, daß besonders in den Urlaubszeiten und während der kalten Jahreszeit zum Nachteil der wirklich Schwerkranken hunderte Betten in den Spezialabteilungen mit Männern und Frauen blockiert werden, die lediglich daheim mühevoller leben müßten und die Einrichtungen des Sozialstaates zum privaten Wohlergehen benützen.

Und was für ein schrecklicher Mißbrauch wird mit den Medikamenten und Kurmitteln betrieben! Der wirklich Bedürftige hat dann leider oft das Nachsehen, er erhält nichts.

Und an allem ist lediglich die Tatsache schuld, daß man erstens den Begriff der Sozialversicherung falsch versteht und zweitens den Wert der modernen Medizin nicht kennt. Auf diesen Wert aber kommt es an, dies haben ja die Placebo-versuche in allen Ländern eindeutig bewiesen: gibt man einem Patienten ein wirksames Medikament, einem anderen aber, der an derselben Krankheit leidet, beispielsweise nur eine Mischung von gewöhnlichem Staubzucker, so kann trotzdem bei beiden die gleiche Wirkung beobachtet werden. Wenn man nämlich ein wertloses Medikament entsprechend anpreist, es durch psychische Beeinflussung wertvoll macht, so wirkt es dann auch entsprechend. Und nachweislich heilen die Wunden im Spital „schneller“, wenn der Operierte jeden Tag bares Geld auf den Tisch legen muß, als wenn er daheim ein kaltes Zimmer hat und keinen Groschen bezahlen muß ... Der „Blinddarm“ eines Unternehmers dauert kaum sechs Tage, der Blinddarm eines Lehrlings aber, mit Krankenstand und Erholungsurlaub, jedoch sechs Wochen.

Mitverantwortung aber heißt, daß man sich darüber klar ist, daß der soziale Staat nur dann bestehen kann, nur dann lebensfähig ist, wenn die Krankenversicherung nicht dauernd ein Passivposten ist. Es muß für dringliche Fälle jederzeit Spitalsbetten geben, es dürfen die Medikamentenkosten nicht zu einem katastrophalen Defizit führen, der Arzt muß anständig honoriert und der alte Mensch ohne Pflege betreut werden.

Und so hat man in den vielen Debatten in der Deutschen Bundesrepublik die Quintessenz gezogen, nachdem man ja in Ost und West ausgiebig die vielen Systeme vergleichen und abwägen konnte. In den meisten Ländern muß der Patient den Arzt bezahlen und erhält von den Kassen das Geld zu einem gewissen Prozentsatz zurück. Beim Spitalsaufenthalt bezahlt er zumindest jene Verpflegskosten, die er ja außerhalb der Spitalsmauern ebenfalls zum Leben nötig hätte. Für die Medikamente bezahlt er prozentuell zu dem jeweiligen Wert. (In Sowjetrußland sind es sogar zwanzig Prozent!)

Auch in Österreich wird man an diesen Erkenntnissen der Fachleute auf dem Gebiete der Sozialversicherung nicht einfach vorbeigehen können. Daß die Verstaatlichung des Gesundheitsdienstes eine wirtschaftliche Katastrophe wäre, bezweifelt heute niemand mehr, der sich nur halbwegs mit der Materie beschäftigt hat. Man kann aber die breite Masse leider nur damit zum Denken zwingen, also auch zur Bildung eines Verantwortungsgefühles, indem man sie eben bezahlen läßt.

Für jeden Tag Spitalsaufenthalt könnte beispielsweise der Patient die Verpflegsgebühren bezahlen. Gratis müßten die ärztliche Betreuung, alle Medikamente im Spital und alle Kosten der Pflege und allfälliger Operationen bleiben. Für Medikamente sollte keine starre Rezeptgebühr, sondern ein entsprechend dem Preis gestaffelter Betrag eingehoben werden, wobei die unerläßlichen Dauer'-erschreibungen, wie Insulin- und Digitalispräparate, natürlich berücksichtigt werden müßten. Die Ärzte sollten für Visiten und Sonderleistungen eine angemessene Honorierung erhalten, wodurch soundso viele Patienten und Patientinnen dann doch eher daheim betreut werden könnten.

Vorschläge wie diese sind nicht neu. Sie liegen seit Jahr und Tag auf den Schreibtischen der Verantwortlichen und könnten, im wahrsten Sinne des Wortes, mühelos verwirklicht werden.

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