Wüste - © Foto: Markus Angermayr

Markus Angermayr: „Wir müssen mit dem Körper gehen“

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Die Berührung von Klientinnen und Klienten war lange Zeit ein Tabu in der Psychotherapie. Markus Angermayr über den neuen Stellenwert und die existenzielle Dimension der Leiblichkeit in der Behandlung.

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Die Berührung von Klientinnen und Klienten war lange Zeit ein Tabu in der Psychotherapie. Markus Angermayr über den neuen Stellenwert und die existenzielle Dimension der Leiblichkeit in der Behandlung.

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Halt geben – das ist eines von vielen Konzepten, das Psychotherapeut(inn)en in ihrer Ausbildung lernen. So auch der Existenzanalytiker und Philosoph Markus Angermayr. Was es bedeutet, wenn Halt nicht nur ein Wort, sondern eine Berührung ist, erfuhr er zum ersten Mal in einem Breema-Seminar für Körperarbeit vor 22 Jahren. Seit damals ist der Körper aus seiner Praxis nicht mehr wegzudenken, wie er im Gespräch mit der FURCHE erklärt. Das Interview fand im April anlässlich seines Eröffnungsvortrages am Internationalen Kongress der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) in Wien statt.

DIE FURCHE: Herr Angermayr, haben Sie nie Angst als Therapeut, Sie könnten eine Grenze überschreiten, wenn Sie Ihre Klienten und Klientinnen berühren?
Markus Angermayr:
Ihre Frage zeigt schon, dass es in der Öffentlichkeit eine bestimmte Vorstellung von Körperpsychotherapie gibt, die sich auf die Frage zuspitzt, ob man hands-on arbeitet oder nicht. Das kann z. B. bedeuten, dass man dem Klienten bei einem schweren Thema anbietet: Wollen Sie einmal ausprobieren, wie es sich anfühlt, Halt im Rücken zu spüren? Direkte Berührung ist aber nur ein Aspekt von Körperpsychotherapie – sicherlich der heikelste. Auch meine Kollegen aus der Existenzanalyse waren zu Beginn skeptisch, was meinen Zugang betrifft. Da wir uns auf Viktor Frankl berufen, sehen wir unsere Schule schon gern als eine, die vom rein Geistigen her kommt. Ich halte das für zu wenig.

DIE FURCHE: Aber es ist doch berechtigt, Klientinnen und Klienten, die eventuell bereits in der Vergangenheit Grenzüberschreitungen erlebt haben, keinem neuen Risiko aussetzen zu wollen. Ist der Verzicht auf Berührung nicht eine Art von Schutz?
Angermayr:
Diesen Aspekt gilt es tatsächlich immer im Auge zu behalten. Es braucht daher eine starke Anbindung an ethische Überlegungen. Unter welchen Umständen kann ein Therapeut ein derartiges Angebot machen? Abgesehen vom eigentlichen Berühren beginnt Körperpsychotherapie aber viel früher; es geht sicher nicht darum, dass man besonders „touchy“ ist. Die Berührung durch den Therapeuten ist nur die Spitze, denn das ist ein extrem starkes Instrument. Man behandelt auch nicht jede Krankheit mit dem Chirurgenmesser. Jeder gute Therapeut geht vom Verbalen zum Körper und dann wieder zum Verbalen zurück. Nur so kann die Berührung integriert werden.

DIE FURCHE: Haben Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Praxis?
Angermayr:
Ich erinnere mich an einen Patienten nach überstandener Erschöpfungsdepression, der zu mir sagte: „Es ist wieder alles so schwer.“ Dann sprach er über seinen Beruf, seinen Alltag, seine Sorgen. Ich fragte ihn: „Was möchte Ihr Körper jetzt tun, wenn Sie ihn radikal ernst nehmen?“ Das Ganze war als freundliche Einladung formuliert. Meinem Klienten fiel sofort eine Antwort ein: „Mein Körper würde sich am liebsten hinlegen und die Decke über den Kopf ziehen.“ Auf meine Rückfrage, was er davon halte, dies tatsächlich für ein paar Minuten auszuprobieren, reagierte er positiv, sodass wir Decken und Pölster in meiner Praxis zusammensuchten. Schon bald spürte man, wie sein liegender Körper weicher wurde. Auch der Atem wurde viel ruhiger. Nach circa 15 Minuten spürte er: Es reicht jetzt. Am Schluss meinte er: „Mein Gott, es wäre so einfach.“ Auch wenn diese Intervention natürlich nicht all seine Probleme mit einem Schlag löste, konnte er die Erfahrung machen: Ich kann meinem Körper vertrauen. So lässt sich für jedes Thema ein körperlicher Ausdruck finden. Es ist wie ein Dialog: Der Verstand wird eingeladen nachzuspüren, was gerade da ist im Körper. Das ist ein kreativer Prozess, der vieles zu Tage bringen kann: Bilder, Sätze, Impulse, Gefühle.

DIE FURCHE: Was wohl am stärksten für den Einbezug des Körpers spricht, ist die Traumaforschung. Aktuelle Studienergebnisse lassen keinen Zweifel daran: Psychotherapeutische Behandlung ohne Berücksichtigung des Körpers ist nicht mehr „Stateof-the-art“. Inwiefern ist es möglich, mithilfe der Körperpsychotherapie rascher Fortschritte zu machen?
Angermayr:
Man sollte den Prozess mit dieser Methode nicht beschleunigen. Die Körperpsychotherapie kann vielmehr einen zusätzlichen Weg eröffnen. Besonders schwierige autobiografische Erinnerungen sind häufig verschüttet. Alles, was man hat, sind vage körperliche Ahnungen. In der von Eugene Gendlin entwickelten Methode des „Focusing“ würde man vom „Felt Sense“ sprechen. Gemeint ist damit gleichsam ein eingefalteter Sinn, der uns nur über den Körper zugänglich ist. Sind wir im Alltag achtsam, so können wir auf Anteile, die aus unserem „Leibgedächtnis“ kommen, aufmerksam werden. Jeder kennt das: Man erlebt eine Begegnung oder eine bestimmte Situation in einer Beziehung, und irgendetwas fühlt sich komisch oder merkwürdig an. Wir haben keine Worte dafür, aber wir spüren es. Genau dem gehen wir in der Körperpsychotherapie nach.

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