Maximilian Moser - © Foto: Doris Helmberger

Maximilian Moser: "Eine ewige Sommerzeit ist Unfug"

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Der Grazer Chronobiologe Maximilian Moser über den „Unfug“ der ewigen Sommerzeit, die Chronotypen der Eulen und Lerchen, das krankmachende Leben gegen die innere Uhr – und seine Gegenrezepte.

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Der Grazer Chronobiologe Maximilian Moser über den „Unfug“ der ewigen Sommerzeit, die Chronotypen der Eulen und Lerchen, das krankmachende Leben gegen die innere Uhr – und seine Gegenrezepte.

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"Der Prophet gilt nicht viel im eigenen Land", meint Maximilian Moser etwas resigniert. Immer wieder wird der Chronobiologe zu Vorträgen nach Japan oder Norwegen eingeladen, um dort über die innere Uhr und die Vorzüge des naturnahen Lebens und Bauens mit viel Grün und Holz zu referieren; doch er selbst muss als Professor für Physiologie der Medizinischen Universität Graz in einem Neubau aus Beton und Stahl sitzen. Moser nimmt es freilich gelassen - wie fast alles. Ein Gespräch über innere Rhythmen und ihre äußeren Feinde.

DIE FURCHE: Herr Professor Moser, am kommenden Sonntag werden die Uhren wieder um eine Stunde vorgestellt. Was halten Sie als Chronobiologe von der Zeitumstellung?

Maximilian Moser: Es gibt wohl keinen Chronobiologen, der sich für die Zeitumstellung ausspricht. Auch wenn das nur eine kleine Störung der inneren Rhythmik darstellt, so weiß man doch, dass die innere Uhr ein ganz wesentlicher Faktor der menschlichen Gesundheit ist. Deshalb versuchen Chronobiologen solche Störungen oder einen Zeitbruch, wie er in einem Verstellen der Uhr stattfindet, zu vermeiden.

DIE FURCHE: Welche Gesundheitsprobleme macht die Zeitumstellung?

Moser: Es gibt zahlreiche Studien, die zeigen, dass die Unfallzahlen nach oben gehen, was auf eine geringere Aufmerksamkeit im Verkehr oder im Arbeitsbereich schließen lässt. Auch die Zahl der Herzinfarkte und der Zwischenfälle in Krankenhäusern nimmt rund um die Zeitumstellung etwas zu. Wobei vor allem jene im Frühjahr Beschwerden macht, weil die Menschen es schlechter ertragen, wenn ihre Schlafzeit verkürzt als verlängert wird. Zumal in unserer Gesellschaft sowieso ein chronisches Schlafdefizit herrscht. Im Herbst kann man diese Stunde zurückgewinnen, und die meisten Menschen verkraften diese Umstellungen, aber trotzdem bedeuten sie eine Störung der Rhythmik.

Ich finde es interessant, dass Fehler, die andere schon gemacht haben, gerne wiederholt werden.

DIE FURCHE: Das ärgert auch viele EU-Bürger. Als Folge könnte es nun in vielen Staaten Europas zur "ewigen Sommerzeit" kommen. Was halten Sie davon?

Moser: Ich finde es interessant, dass Fehler, die andere schon gemacht haben, gerne wiederholt werden. Russlands damaliger Präsident Dmitri Medwedew hat 2011 die ewige Sommerzeit proklamiert, doch drei Jahre später ist das wieder zurückgenommen worden, weil es massive Gesundheitsprobleme in der Bevölkerung gegeben hat. Von einem Ende der "Winterzeit" zu sprechen, ist auch nicht korrekt, man müsste von einem Ende der astronomischen "Normalzeit" sprechen – jener Zeit, bei der die Sonne zu Mittag etwa im Zenit steht. Aus Sicht der Chronobiologen ist eine "ewige Sommerzeit" also ein Unfug, weil man die Zeit verbiegt und dem Menschen ein weiteres Mittel zur Stabilisierung seiner Körperrhythmik nimmt. Man ersetzt also die natürliche durch eine künstliche Zeit. Konkret würde das bedeuten, dass man im Winter in völliger Dunkelheit aufstehen und dauernd gegen die innere Uhr arbeiten müsste, weil das Licht als wichtiger Zeitgeber noch nicht vorhanden ist.

DIE FURCHE: Müssten sich dann die Chronobiologen nicht noch mehr zu Wort melden?

Moser: Der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg hat gemeint, dass die Europäer durch eine ewige Sommerzeit "dicker, dümmer und grantiger" werden würden. Aber immer wieder meinen Menschen, dass man das ruhig machen könnte, weil es die Industrie gerne hätte, dass man früher zur Arbeit geht – und die Freizeitindustrie, dass man abends mehr Zeit hat, um ihre Segnungen zu gebrauchen.

Eine ewige Sommerzeit ist Unfug, weil man die Zeit verbiegt und dem Menschen ein weiteres Mittel zur Stabilisierung seiner Körperrhythmik nimmt.

DIE FURCHE: Kommen wir zum Begriff der "inneren Uhr". Was ist das eigentlich?

Moser: Eigentlich müsste man ja von vielen inneren Uhren sprechen, weil es sie in jeder Zelle unseres Körpers gibt. Es ist eine Art Zeitorganismus, der in den 1950er-Jahren entdeckt wurde. Am Beginn hat man noch geglaubt, dass die innere Uhr nur von außen gesteuert wird – etwa wenn die Temperatur abfällt und die Dunkelheit kommt. Heute weiß man, dass es zwar Einflussfaktoren von außen gibt, aber eben auch diese "inneren zirkadianen Rhythmen", die rund 24 Stunden dauern. Diese Rhythmen bewegen alle physiologischen Funktionen: Hormone, Nervenaktivität, Körpertemperatur und Verdauungstätigkeit. Abends heben sie die Bereitschaft für das Einschlafen und morgens für das Aufwachen.

DIE FURCHE: Diese Bereitschaft zum Einschlafen oder Aufwachen variiert je nach Chronotyp deutlich: Es gibt Morgenmenschen (Lerchen) und Abendmenschen (Eulen). Wie kommt es zu diesen Unterschieden?

Moser: Bei Tieren hat man gesehen, dass es eine genetische Prägung gibt, beim Menschen spielen sicher auch soziale Faktoren eine Rolle. Wenn man in einer WG wohnt, in der viele um sieben Uhr früh aufstehen, wird man eher aufstehen als in einer, in der bis 11 Uhr geschlafen wird. Wir haben aber auch ein Gerät entwickelt, mit dem man tatsächliche Unterschiede zwischen Eulen und Lerchen messen kann. Und zwar über die Herzrhythmusflexibilität, die Anpassungsfähigkeit des Herzens an andere Organrhythmen. Bei Lerchen tritt die maximale Flexibilität schon etwa um ein Uhr nachts auf, bei Eulen erst um vier Uhr. Fast zwei Drittel der Menschen sind aber weder das eine noch das andere, sondern Indifferenztypen. Der Rest verteilt sich zu gleichen Teilen auf Eulen und Lerchen.

DIE FURCHE: Wenn man eher eine Eule oder Lerche ist – bleibt man das Zeit seines Lebens oder verändert sich das?

Moser: Ein kleine Kind tendiert eher zu morgentypischem Verhalten, mit 20 Jahren wird dann das Maximum des Abendtypus erreicht – und ab 50 Jahren wird man wieder eher morgentypisch. Die Unterschiede betragen im Durchschnitt ein bis zwei Stunden. Wobei Männer mehr auslenken als Frauen. Sie sind also etwa als 20-jährige Studenten besonders starke Eulen.

DIE FURCHE: Sie haben den Zeitgeber Licht erwähnt. Wie wichtig ist Licht für die Synchronisation der inneren Uhr mit der Außenwelt?

Moser: Licht ist sicher der wichtigste Zeitgeber. Es weckt uns jeden Morgen auf, vor allem, wenn es wie das Tageslicht einen hohen Blauanteil hat. Untertags sollten wir also in Tageslicht regelrecht gebadet sein, weil dadurch nicht nur Vitamin D in der Haut gebildet, sondern auch das Hormon Serotonin erzeugt und das Müdigkeitshormon Melatonin unterdrückt wird. Dann bleiben wir im Wachmodus, zugleich wird abends mehr Melatonin produziert und wir können besser schlafen. Am Abend sollte man sich aber vor Blaulicht schützen - und das ist eine Herausforderung, weil wir von Monitoren mit hohem Blaulichtanteil umgeben sind. Wenn man einen Bildschirmmodifikator nutzt, der den Screen abends auf gelbes Licht umschaltet, nimmt die Müdigkeit sofort zu.

Wechselschichtarbeit führt zu einer Erhöhung der Brustkrebsrate um 50 Prozent, Prostatakrebs- und Herzinfarktraten
steigen in ähnlichem Maß.

DIE FURCHE: Sie sagen generell, dass viele Menschen heute gegen ihre innere Uhr leben würden. Was meinen Sie damit - abgesehen von nächtlicher Bildschirmarbeit?

Moser: Der Philosoph Ludwig Klages hat bemerkt, dass Rhythmus die Wiederkehr von Ähnlichem in ähnlichen Zeitabschnitten ist – und Takt die Wiederkehr von Gleichem in gleichen Abschnitten. Rhythmus entspricht dem Wesen allen Lebens, und Takt dem von Maschinen. Seit Erfindung der Taschenuhr hat der Takt aber immer mehr Eingang in unsere Zeitlichkeit gefunden. Wir gestalten sie nicht mehr nach den Rhythmen der Natur und wir erleben diese auch immer weniger, sondern wir leben nach dem Takt der Maschinen. Und davor muss man als Chronobiologe warnen. Die Auswirkungen kann man überall beobachten, die psychischen Erkrankungen nehmen zu, auch die "silent inflammation", eine chronische Immunreaktion des Körpers auf diese Taktung, wird häufiger. Zugleich nimmt die Aktivität des Erholungsnervs im Organismus ab. Durch all das ist der Körper weniger in der Lage, sich zu regenerieren, und die chronischen Erkrankungen steigen. Im Wort "chronisch" steckt ja schon das griechische Wort "chronos", Zeit.

DIE FURCHE: Können Sie konkrete Beispiele für diese zunehmende Vertaktung nennen?

Moser: Ein Beispiel sind Unternehmensberatungen, die alles standardisieren und zertifizieren. Das führt dazu, dass der Dokumentationsaufwand gewaltig steigt. Ärzte haben etwa keine Zeit mehr, sich um Patienten zu kümmern, sondern müssen dokumentieren, was sie mit ihnen besprochen haben. Das alles führt zu einem ungeheuren Druck, der mit einem Sinnlosigkeitsgefühl und Verlust der Kontrolle über die eigene Zeit verbunden ist und zu einer enormen Zunahme des Burnout führt.

DIE FURCHE: Ein Extrembeispiel für Arbeit jenseits der inneren Uhr ist Schichtarbeit. Welche Folgen kann sie haben?

Moser: Nacht- und Schichtarbeit ist vor allem dann schädlich, wenn sie die biologischen Rhythmen stören. Das heißt: Nachtportiere, die immer in der gleichen Schicht arbeiten, oder Bäcker, die immer zur selben Zeit aufstehen, haben weniger Gesundheitsstörungen als Menschen, die einmal Morgen-,dann Nachmittags-und dann Nachtschicht machen müssen. Wechselschichtarbeit führt zu einer Erhöhung der Brustkrebsrate um 50 Prozent, Prostatakrebs- und Herzinfarktraten steigen in ähnlichem Maß. Die IARC, eine Teilorganisation der WHO, hat 2009 die wechselnde Nacht- und Schichtarbeit als wahrscheinlich krebsauslösend klassifiziert, weil unser Immunsystem dadurch in seiner Tätigkeit gestört wird.

DIE FURCHE: Viele Menschen sind aber zur Schichtarbeit gezwungen. Sind Eulen oder Lerchen eher dafür geeignet?

Moser: Morgenmenschen sind eher ungeeignet für Nacht- und Schichtarbeit. Sie ertragen Änderungen ihres Lebensprotokolls nicht so gut. Eulen tun sich hier leichter. Manche Eulen bezeichnen das sogar als bevorzugte Schicht, aber die meisten sind trotzdem in ihrer Schlafqualität beeinträchtigt und können auch an Erholungstagen nicht richtig ausschlafen.

DIE FURCHE: Kommen wir von müden Erwachsenen zu müden Kindern. Regelmäßig wird darüber diskutiert, ob man den Unterrichtsbeginn nach hinten legen sollte. Was sagen Sie dazu?

Moser: Ich habe mehrere Schulen dabei unterstützt, den Schulbeginn zumindest um eine Dreiviertelstunde später anzusetzen, und sie sind äußerst zufrieden. In einem großen Schulversuch in Minnesota hat sich auch gezeigt, dass die Kinder trotzdem zur gleichen Zeit schlafen gehen, auch wenn sie später aufstehen. Sie gewinnen also effektiv Schlaf dazu, und genau das will man erreichen. Es gibt ja die These, dass überaktive Kinder eigentlich zu wenig Schlaf bekommen. Statt sie mit Ritalin zu versorgen, sollte man sie einfach länger schlafen lassen. Dass Kinder in völliger Dunkelheit in die Schule gehen, ist jedenfalls absolut nicht kindgerecht.

DIE FURCHE: Die meisten Schulen halten trotzdem an einem frühen Schulstart fest, weil der Unterricht sonst zu lange in den Nachmittag reichen würde.

Moser: Es ist interessant, dass wir uns so stark gegen Kinderarbeit in Indien einsetzen, aber gegen jene in Österreich nichts einzuwenden haben. Schule ist ja auch Arbeit, und wenn Kinder 20,30, ja 40 Stunden pro Woche für die Schule arbeiten und nicht einmal zwei Stunden draußen im Tageslicht sein können, dann sollte man sich fragen, ob das noch eine Kindheit ist, die diesen Namen verdient. Hier wäre mehr Mut zur Lücke angebracht: Die Schule sollte nicht versuchen, zu viel Stoff in die Kinder hineinzudrücken. Besser wäre es, Freude am Lernen zu wecken.

DIE FURCHE: Allgemein zeigt sich, dass die Erkenntnisse der Chronobiologie nicht so leicht umzusetzen sind. Ein Beispiel ist die "ChronoCity" in Bad Kissingen. Man wollte den Schulbeginn auf 9 Uhr legen, "Eulen" sollten später zu arbeiten beginnen, Büros Tageslichtlampen erhalten. Doch das Projekt wurde wieder auf Eis gelegt.

Moser: Wenn die Werte der Menschen außerhalb der Arbeit liegen, wird es auch nicht viel Sinn machen, die Arbeitszeit anders zu verteilen. Wahrscheinlich müsste die Work-Life-Balance generell anders gefasst werden, indem man etwa versucht, die Arbeit wieder stärker in die Familie zu verlegen. Die modernen Medien machen das ja möglich. Befragungen haben gezeigt, dass flexible Arbeitszeiten oder Homeoffice die Zufriedenheit – auch mit dem Verhältnis zu den eigenen Kindern – steigen lassen. In unserer Leistungsgesellschaft wird aber kaum Wert auf das Erleben von Familie oder persönlicher Beziehung gelegt. Das muss sich ändern.

DIE FURCHE: Was könnte jeder und jede Einzelne tun, um mehr im Einklang mit der inneren Uhr zu leben?

Moser: Das Erste wäre ein regelmäßiger Lebensstil mit regelmäßigem Schlafengehen und Essen. Das klingt langweilig, aber man weiß aus Studien mit Hundertjährigen, dass sich keiner von denen die Nächte um die Ohren geschlagen hat. Und dann weiß man heute auch, dass es einen natürlichen Zweistundenzyklus im menschlichen Organismus gibt. Man sollte also alle eineinhalb bis zwei Stunden eine Pause machen, ins Freie gehen oder beim Fenster hinausschauen.

DIE FURCHE: Und wie sollte man mit der Zeitumstellung umgehen?

Moser: So ähnlich wie mit einem Jetlag: Die Uhr sofort umstellen und nach der neuen Zeit leben. Dann gewöhnt sich der Organismus schneller an die neue Zeit. Wichtig ist auch, bewusst Erholungsphasen einzubauen und rhythmischer zu leben. Wenn man sich viel in der Natur bewegt und die natürlichen Rhythmen nutzt, kann sich der Organismus leichter an die neue Zeit gewöhnen – auch wenn es nicht die richtige ist. Nicht zuletzt sollte man der EU ein Signal geben, wieder ganzjährig die Normalzeit einzuführen. Ewig die Zeit zu verstellen wäre chronischer Unfug.

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