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Medizin und Publizistik

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Die Erörterung medizinischer Themen in der Öffentlichkeit hat in den vergangenen Jahren erheblich an Ausdehnung zugenommen. Das ist in der übrigen Welt kaum anders als in Oesterreich. Die Gründe hiefür sind leicht einzusehen. Die raschen Fortschritte der Medizin haben das Interesse an ihren Problemen beträchtlich gesteigert. Wer als Arzt die dramatische Spannung erlebt hat, die in der Zeit zwischen der Entdeckung der Antibiotika und ihrem Erscheinen in den Apotheken herrschte, und sich jener tragischen Fälle erinnert, die ihr Leben noch angesichts der nahenden Rettung verlieren mußten, der versteht, daß der Laie erwartungsvoll in den Aether lauscht und die Spalten der Zeitungen durchfliegt: fast jeden drückt ein Schmerz, fast jeder hat einen kranken Anverwandten, und alle zusammen sind überzeugt, daß nun einmal auch für sie der Tag kommen wird, der sie von ihren Leiden befreit. Der Glaube an die Medizin ist gigantisch gewachsen. Die der allgemeinen Bildung und Volksaufklärung dienenden Institutionen, vor allem Presse und Rundfunk, kommen also einem berechtigten Wunsche des Publikums entgegen und entsprechen zugleich einer ihrer vornehmsten eigenen Aufgaben, wenn sie der Verbreiterung von Wissen auf einem Gebiete dienen, welches das Allgemeininteresse so sehr berührt wie das Gesundheitswesen.

Allerdings dürfen gewisse Einschränkungen nicht übersehen werden.

Die Medizin ist keine Geheimwissenschaft, aber sie verträgt keine Halbheiten. Jedermann kann sich damit befassen, doch nur unter der Voraussetzung berufsmäßiger Hingabe und weitreichender theoretischer Vorkenntnisse wird man daraus auch Nutzen ziehen können. Dies trifft in der Regel nur auf den Arzt, aber nicht beim Laien zu, der deshalb auch kaum in der Lage ist, sich von Sinn und Inhalt medizinischer Ausführungen eine richtige Vorstellung zu machen. Um diese Schwierigkeit kommt man auch nicht durch eine volkstümliche Vereinfachung der Materie herum. Selbst der wortgewandteste Arzt vermag die Vereinfachung des Stoffes nur durch die Preisgabe unveräußerlicher wissenschaftlicher Prinzipien wie der Exaktheit, Klarheit und Richtigkeit zu erreichen.

Das Ergebnis solcher „Aufklärung“ lohnt daher selten die Mühe. Die Erfahrung ärztlicher Praxis bestätigt, daß medizinische Fachvorträge, Berichte in Wochenschriften, Illustrierten usw., infolge von Mißdeutungen, irriger Auslegung und Anwendung, geradezu psychotische Reaktionen in der Bevölkerung auslösen können. Die historische Entwicklung hat dazu geführt, daß die Angst immer deutlicher als bestimmender Faktor im Erlebnisinhalt des 20. Jahrhunderts in Erscheinung tritt. Es ist weder vom äiztlichen noch vom publizistischen Standpunkt aus vertretbar, daß die Bevölkerung auch noch von Seiten der Medizin, von der sie ausschließlich Schutz und Hilfe erwarten können sollte, beunruhigt wird. Und es handelt sich hier um eine nicht geringe Beunruhigung. Es ist nicht nebensächlich, wenn Krankheitsfurcht Menschen von einem Arzt zum anderen treibt, bloß weil sie eine Weile im Radio etwas von Krankheiten und ihren Symptomen gehört haben. Es ist nicht gleichgültig, wenn Kranke und Leidende immer wieder dem Schock der Enttäuschung anheimfallen, weil sie von neuen Wundermitteln hören und am eigenen Leibe erfahren müssen, daß diese gerade in ihrem Falle erfolglos bleiben. Es ist nicht nebensächlich, wenn die Ueber-schwemmung mit medizinischen Mitteilungen das Publikum zur Selbstbehandlung und Pfuscherei anregt weil dadurch der Volksgesundheit schwerer Schaden zugefügt wird.

Es ist Sache der Aerzte, Krankheiten festzustellen und nach dem Stand modernen Wissens zu behandeln. Es muß daher gesorgt werden,daß die Aerzte über alle Fortschritte der Medizin rasch und eingehend unterrichtet werden. Heute tritt die umgekehrte Tendenz immer stärker hervor: Der Patient sucht den Arzt berei.ts mit vorgefaßter Diagnose auf und verlangt die Verschreibung bestimmter Medikamente, deren Wirksamkeit ihm durch Zeitungsberichte und Vorträge hinreichend verbürgt erscheint. Manche dieser Medikamente sind dem Arzt noch gar nicht bekannt und im Handel noch nicht erhältlich.

Es gibt also Grenzen, deren Ueberschreitung die Zweckmäßigkeit medizinischer Erörterungen vor der Oeffentlichkeit ins Gegenteil verkehrt. Eine wohlverstandene, verantwortungsbewußte Volksaufklärung wird diese Grenzen auch immer rechtzeitig wahrnehmen. Es sollte vermieden werden, immer wieder Krankheitsbilder mit ihren Symptomen, Heilungsaussichten und Heilungsmethoden zu schildern, weil dadurch ja doch nur Hypochondrie, Hysterie und alle Arten organneurotischer Entwicklungen gezüchtet werden. Es sollte vermieden werden, jede neue

Heilmethode, gar wenn ihr Wert im Vergleich zu älteren Verfahren noch nicht feststeht, sensationell anzukündigen, weil dadurch gerade unter den Schwerkranken, chronisch Leidenden und Siechen vielfach Verwirrung, Enttäuschung und Entmutigung gestiftet wird.

Sofern Aerzte das Wort zur medizinischen-Aufklärung ergreifen, verbindet sich damit auch ein berufsethisches Problem. Man mag die Medizin als Forschungsobjekt oder nach sozialökonomischen Gesichtspunkten betrachten — ihr Grundgehalt wird stets ein ethischer, der des Helfens und Schützens bleiben müssen. Diese Zielsetzung legt dem Arzte Verpflichtungen auf, die in seiner pefsönlichen Haltung klar zum Ausdruck kommen sollen. Hierher gehört der Verzicht auf persönliches Geltungsstreben. Das demonstrative Hervortreten im Rampenlicht der Oeffentlichkeit erweckt zumindest den Anschein eines solchen Motivs. Es gehört weder zur Tradition noch zum Wesen der Heilkunde, daß ihre Vertreter medizinische Probleme völlig frei auf dem Jahrmarkt der öffentlichen Meinung zur Diskussion stellen, unbekümmert darum, wer und unter welchen Voraussetzungen jemand diese Ausführungen aufnimmt. Die Gefahr des Mißbrauches oder der Mißdeutung durch das Publikum hatte früheren Aerztegenerationen eine maßvolle Zurückhaltung bei der Preisgabe ihres Wissens als Selbstverständlichkeit erscheinen lassen. Gewiß, die Zeiten haben sich geändert. Das Publikum erhebt heute berechtigten Anspruch auf rasche und verläßliche Information aus berufenem Munde. Diese, durch die Zeitverhältnisse bedingte Volksaufklärung sollte aber in erster Linie Aufgabe der hiezu verpflichteten Gesundheitsbehörden sein. Wie und durch wen immer schließlich diese Aufklärung betrieben wird — stets müssen die grundlegenden Prinzipien ärztlichen Handelns auch unter geänderten Zeitbedingungen gewahrt bleiben. Das urteilsreifere Publikum, vor allem der überwiegende Teil der Aerzteschaft selbst, bedauert eine bewußt forcierte Publicity, weil sie dem Ansehen des Standes wie auch dem der betreffenden Aerzte selbst abträglich ist. Ansehen und Popularität decken sich nicht unter allen Umständen.

Mag sein, daß insbesondere der auf verantwortlichem Posten stehende Arzt sich in schwieriger Situation zur Flucht in die Oeffentlichkeit veranlaßt sieht. Auch dieser Schritt dürfte nur nach Ausschöpfung aller tauglichen Mittel gewagt werden, da er gewöhnlich als provokatorische Maßnahme empfunden wird und mehr Verwirrung als Nutzen stiftet Welches Ergebnis sollte man sich auch sonst davon versprechen? Kann man etwa annehmen, daß die Oeffentlichkeit ohne Kenntnis der näheren Umstände und ohne fachliches Urteilsvermögen in der Lage wäre, die vorgebrachten Argumente zu prüfen und zu rechtfertigen? Mängel und Lücken im Gesundheitswesen sind zuallererst den sanitätsbehördlichen Instanzen, allenfalls den zuständigen Aemtern der Landesregierungen zur Kenntnis zu bringen. Der österreichische Sanitätsdienst verfügt außerdem über ausgezeichnete, rein fachlich orientierte Organe, den Obersten Sanitätsrat und die Landessanitätsräte, deren Mitglieder ausnahmslos hervorragende Vertreter der medizinischen Wissenschaft und Praxis sind.

Oesterreichs Medizin hat nach der katastrophalen Einbuße durch beide Weltkriege wieder jene ehrenvolle Beachtung in der ganzen Welt gewonnen, die ihrer Tradition entspricht. Das Hauptverdienst daran fällt der Aerzteschaft zu. Es wäre bedauerlich, wenn dieser verheißungsvolle Aufstieg in zunehmendem Maße von Methoden umschattet würde, die irgendwo im Ausland heimisch sein mögen, dem kulturellen Erbe Oesterreichs jedoch wesensfremd sind.

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