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Paul Jaray und die Stromlinie

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Automobile und Flugzeuge haben viel Verwandtes. Das mag im ersten Augenblick etwas befremdend klingen. Und dennoch ist es so. Automobile sind ebenso wie Flugzeuge Beförde-rungs- bzw. Verkehrsmittel, die von einander sehr ähnlichen Antriebsmitteln bewegt werden. Noch charakteristischer aber ist, daß sich die Konstrukteure beider sehr gründlich mit aerodynamischen Problemen auseinandersetzen müssen. Beim Flugzeug war es schon zu Beginn seiner Entwicklung eine Grundforderung, sich mit dem Verhalten der Luft — eine wissenschaftlich fundierte Aerodynamik gab es erst sehr spät — bekannt zu machen und es zu erforschen, da die Flugkörper — waren es nun Luftschiffe, Ballons oder Flugzeuge, „schwerer als Luft“ — sich ja in dem Medium Luft zu bewegen hatten. Von einer richtigen Formgebung konnte in keinem Fall die Rede sein. Man war glücklich darüber, sich schlecht und recht in der Luft halten zu können.

Als jedoch die Geschwindigkeit der Flugzeuge und der Automobile annähernd gleich groß wurde, mußte man sich zwangsläufig mit einer richtigen Formgebung bei Flugzeugen auseinandersetzen, denn man konnte ja die Maschinenleistungen nicht willkürlich steigern. Dies hätte jedenfalls mehr Gewicht bedeutet, was gerade am wenigsten angestrebt wurde. Man mußte also versuchen, die Geschwindigkeit bei kleinstem Motorgewicht möglichst durch andere Gegebenheiten zu steigern. Das Naheliegende war, den Luftwiderstand durch richtige Gestaltung auf ein Minimum zu reduzieren. Hiefür standen anfangs im allgemeinen nur Erkenntnisse aus der verwandten Hydrodynamik zur Verfügung, die jedoch meist nicht befriedigen konnten. Beim Kraftwagen lagen die Verhältnisse wesentlich anders. Hier war vorderhand kein Zwang gegeben, eine entsprechende Wind-schlüpfigkeit der Karosserie anzustreben, da man ja den auf Rädern auf dem Boden laufenden Wägen theoretisch mit einer fast unbegrenzten Maschinenleistung ausstatten konnte, wodurch man erst gar nicht auf die Idee kam, hier etwa durch aerodynamisch richtige Formgebung sehr wesentliche Einsparungen an Kraftstoff, Geschwindigkeitserhöhung oder etwa leichtere Bauweise anzustreben. Dies ist auch der Grund, warum man im Automobilbau erst wesentlich später begann, sich mit aerodynamischen Prinzipien auseinanderzusetzen.

Als in Wien im Jahre 1909 unter der begeisterten Anteilnahme der Bevölkerung der Franzose B 1 e r i o t, der kurz zuvor mit Erfolg den Aermelkanal überflogen hatte, sein Können unter Beweis stellte, befand sich unter der staunenden Menge ein junger Student der Wiener Technischen Hochschule. Er, Paul Jaray, sah nicht nur den kühnen Flieger mit seiner Maschine, er sah als erster, was dieser Flugkörper in der Luft selbst bewirkte, indem er eine geistige Brücke zur Hydrodynamik schlug. Plötzlich wurde ihm der Strömungsverlauf an dem in der Luft schwebenden Flugkörper gegenwärtig. Diese intuitive Erkenntnis hatte genügt, daß Paul Jaray sein ganzes Leben in den Dienst der Erforschung und praktischen Anwendung der Aerodynamik stellte.

1912 war sein Ruf auf diesem Gebiet bereits so fundiert, daß er Chefkonstrukteur für den Flugzeugbau in Friedrichshafen wurde. Im Rahmen dieser Tätigkeit baute ei fünf Flugzeugtypen, die Sicherheit, Leistung und elegantes Aussehen in sich vereinigten und große Erfolge hatten. Während des ersten Weltkrieges verblieb er durch ein Abkommen des Kriegsministeriums in Wien und des Berliner Reichsmarineamtes in Friedrichshafen, wo er die Leitung des Projektenbüros der Zeppelin-Werft übernahm. Hier fand er ein reiches Betätigungsfeld und konnte seine aerodynamischen Erkenntnisse und Erfahrungen voll entfalten. Er war es, der die bis dato vorn und hinten spitz zulaufende Bleistiftform der Luftschiffe durch eine aerodynamisch richtige Form ersetzte. Das erste dieser Luftschiffe führte die Bezeichnung „LZ 38“ und bewies durch seine große Schnelligkeit und alle Voraussagen weit übertreffende Leistungsfähigkeit auf mehr als das Doppelte die volle Richtigkeit Jarays wissenschaftlicher Erkenntnisse. Erst nach dem ersten Weltkrieg konnte Jaray seine Arbeit, die bis dahin im Dienste der Rüstung gestanden hatte, der Wissenschaft für friedliche Zwecke zur Verfügung stellen.

Er befaßte sich vorerst mit der aerodynamisch richtigen Formgebung von Tragflächen und Flugzeugrümpfen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis Jaray seine Ideen auch auf das Automobil übertrug und gegen die damals übliche Kastenbauweise Sturm lief. Er erwarb entsprechende Patente, durch die er mit dem Deutschen Rumpier, dem Konstrukteur des sogenannten „Tropfenautos“, der, rein von der Hydrodynamik ausgehend, eine bootsähnliche Karosserie kreierte, in Prioritätsstreitigkeiten geriet, aus denen er jedoch durch seine völlig andersgeartete Form der angestrebten Gestaltung der Karosserie mit Erfolg hervorging. Wie wichtig jedoch gerade eine aerodynamisch richtige Linienführung und der dadurch erreichte geringe Luftwiderstand sind, geht aus der Tatsache hervor, daß letzterer mit dem Quadrat der Geschwindigkeit ansteigt.

Jaray erkannte, daß der in Bodennähe bewegte Körper anderen Strömungsgesetzen unterliegt als der frei in der Luft fortbewegte. Vor allem war ihm klar, daß ein solcher Körper an seiner unteren Seite fast flaqh sein müsse. Bei Inbewegungsetzen des Fahrzeuges entsteht (und bleibt während der Fahrt erhalten) an der Wagenvorder- und -Unterseite ein Ueberdruck. Durch dieses Luftkissen unter dem Fahrzeug und durch andere Momente verringert sich die Eigenstabilität sehr stark, wenn sie nicht richtig beherrscht werden, was sich schon auf gerader Strecke sehr unangenehm bemerkbar machen kann. Von Bedeutung ist aber auch, daß die Strömung bereits am Bug des Fahrzeuges mit entsprechend großen Abrundungsradien aufgenommen wird. Der Luftstrom muß an der Karosserie ungestört anliegend möglichst weit nach hinten geführt werden und erst an einer Stelle des kleinsten Querschnittes abreißen. Zwangsläufig ergibt sich daraus eine Karosserieform, die eine sanfte Verjüngung nach hinten aufweist, wobei ein sicheres Anliegen der Strömung bis zum Heck gewährleistet ist. Interessant ist hierbei, daß die Form des Heckabschlusses nur wenig Einfluß auf den Luftwiderstand besitzt. Der Luftstrom soll also möglichst wenig gestört werden, wie etwa durch Türschnallen, tiefliegende Fenster usw. Beim Flugzeug geht man hier so weit, daß man Tragflächen und alle möglichen Teile sogar poliert, um die Reibung und Wirbelbildungen möglichst gering zu halten.

Mit dem ersten von Jaray gebauten Stromlinienwagen wurden Auslaufversuche zusammen mit anders karossierten Fahrzeugen gemacht, wobei die Auslaufstrecken des Jaray-Wagens erheblich länger waren als die der Vergleichswagen. Mit einem 40-PS-Wagen kam folgender Vergleich der für die Ueberwindung des Luftwiderstandes erforderlichen Radleistungen zustande:

Geschwindigkeit 60 70 80 km/h

Kastenförmiger Aufbau 7 11 16,5 PS Jaray-Form 2,4 3,8 5,7 PS

Diese Zahlen sprechen für sich. Durch die Kompliziertheit der echten Stromlinienform ist stets eine Erprobung des fertigen Modells, das im allgemeinen in der Größe 1:5 gehalten ist, in einem Windkanal erforderlich. Die ersten Versuche an Kraftwagen fanden in dem Windkanal des Luftschiffbaues statt. Später, vor dem zweiten Weltkrieg, war die Forschungstätigkeit in bezug auf die Stromlinie sehr erheblich. Da der Flugzeugbau ähnliche Probleme zu lösen und Prof. Junkers in Dessau Spezialanlagen zum Studium des Luftwiderstandes geschaffen hatte, ging im deutschen Wirtschaftsraum die Prüfung der Linienführung neuer Automodelle zum Teil auch auf ihn über. Nach und nach entstanden auf der ganzen Welt Institute, die mit Hilfe von Windkanälen und Modellversuchen die besten Karosserieformen ermittelten. Tatra war eine der ersten Automobilfabriken, die in ihrem Karosseriebau die Stromlinie serienmäßig verwertete.

Auf dem Kraftfahrzeugsektor werden diese Fortschritte leider nicht durchwegs zur Kenntnis genommen. Die heute als modern angesprochenen Karosserien weisen im allgemeinen wohl schöne, abgerundete Linienführung auf, die in den meisten Fällen jedoch dem Geschmack der Zeit mehr als aerodynamischen Erkenntnissen entgegenkommt. In Fachkreisen ist.man sich klar darüber, daß bei den meisten Fahrzeugen der Luftwiderstand bis auf die Hälfte herabgedrückt werden kann. Sicherlich ist es wie überall in der Technik nicht leicht, einerseits hundertprozentig aerodynamisch richtig, anderseits aber auch innenraum- und komfortmäßig sowie der Mode entsprechend zu bauen. Und sollte die Karosserieform eines Fahrzeuges einmal an sich eine einigermaßen brauchbare Kompromißlösung darstellen, so wird man, sobald man die Unterseite dieses Fahrzeuges betrachtet, meist erschüttert feststellen können, daß hier gerade das Gegenteil von aerodynamischen Grundsätzen verwirklicht wurde. Die wenigsten Automobile besitzen eine glatte, durchgehende Unterseite. Meist ist es so, daß unterhalb des Motors Keinerlei Abdeckbleche vorhanden sind.wodurch sämtliche Bestrebungen, die man eventuell mit der Linienführung des Oberbaues anstrebt, zunichte gemacht werden. Ein weiterer Punkt, der meist keinerlei Beachtung findet, ist die richtige Kühlluftführung. Jaray befaßte sich sehr ausführlich mit dem Problem der richtigen Strömung der zur Kühlung erforderlichen Luft unterhalb der Motorhaube. Was heute auf diesem Sektor geboten wird, hat mit einer sinnvollen Führung der Luft überhaupt nichts zu tun. Man läßt die Kühlluft durch hochmoderne Kühlermasken einfach einströmen und überläßt sie unterhalb der Motorhaube einfach ihrem Schicksal, ohne auch nur zu versuchen, ihr vorteilhafte Abzugsmöglichkeit zu schaffen. Obwohl man bei richtiger Kühlluftführung die hier auftretenden Verluste auf 5 Prozent des Gesamtluftwiderstandes herabdrücken könnte, während die heutigen Werte 10 bis 20 Prozent ausmachen.

Was beim Pkw. ein gewisser Anklang an richtige Stromlinienform ist, das sieht beim Sportwagen weit günstiger aus und bei richtigen Rennwagen, bei denen es auf die Ausnützung jedes kleinsten Vorteiles ankommt, wird den aerodynamischen Grundsätzen entsprochen, soweit dies konstruktiv möglich ist. Klassische Beispiele für aerodynamisch wirklich großartige Linienführung sind die Mercedes-Silberpfeile und die Porsche-Rennsportwagen. Eine Fahrzeugkategorie aber, in der in dieser Beziehung auch jetzt noch finsterstes Altertum zu herrschen scheint und bei deren Beurteilung man unbedingt zu der Erkenntnis kommen müßte, Jaray habe nie gelebt, sind die Lkw. Zugegebenermaßen kann bei Pritschenwagen hier nicht viel unternommen werden, was auch für Spezialfahrzeuge gelten mag. Viel könnte aber bei den heute im Fernverkehr laufenden Ferntransportern mit oder ohne Anhänger geschehen. Hier gibt es reiches Betätigungsfeld. Wie amerikanische Versuche ergaben, wären zum Beispiel an Sattelschleppern Einsparungen beachtlicher Höhe möglich. Bei nicht sehr wesentlich veränderter, an aerodynamische Grundprinzipien nur angepaßter Form eines solchen Fahrzeuges könnten bereits Verminderungen des Luftwiderstandes um 56 Prozent erzielt werden, was eine Senkung der Kraftstoffkosten um 19,3 Prozent bedeutet. Dabei handelt es sich hierbei ausschließlich um eine Teilverkleidung des Fahrzeuges. Bei wirklich vollkommener Stromlinienverkleidung könnten bis zu 86 Prozent des Luftwiderstandes eliminiert werden, wodurch die Kraftstoffkostensenkung nicht weniger als 30 Prozent betragen würde. Allerdings muß dazu festgestellt werden, daß diese Vollstromlinienverkleidung laderaummäßig nicht sehr günstig wäre. Interessanterweise decken sich diese neuerdings ertorschten Werte vollkommen mit den von Jaray in den Jahren 1921 und 1922 ermittelten. Jaray gab bereits damals an Hand von Tabellen, die auf Versuchen basierten, bekannt, daß sich die Kraftstoffverbrauchs-Verminderung um 30 Prozent bewegen würde. Damals war die Formgebung beim Pkw. ähnlich wie sie heute im Lkw.-Bau gehandhabt wird. Es ist geradezu unverständlich, daß die Automobilindustrie, und hier im besonderen die Nutzkraftwagenindustrie, noch nicht versucht hat, zumindest Kompromißlösungen zwischen den laderaummäßigen und den aerodynamischen Problemen zu finden.

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