6601363-1953_41_05.jpg
Digital In Arbeit

Phaeions leuchtende Spur

Werbung
Werbung
Werbung

.Wohl die schönste Zierde mondscheinloser Sommernächte bildet das schimmernde Band der Milchstraße, dessen glänzendste Lichtwolken in den Monaten Juli bis September vom südlichen Horizont gegen die Himmelsmitte emporsteigen. Unter ihren vielen märchenhaften Ausdeutungen behauptet eine der ältesten, daß sie die ausgebrannte Spur des Sonnenwagens sei, der einstmals abweichend von seiner heutigen Bahn darüber hingefahren sei. Diese Ansicht haben sich auch mehrere griechische Naturphilosophen der Pythagoräischen und der Jonischen Schule zu eigen gemacht, so namentlich (zufolge der Ueberlieferung des Achilles Tatios) Oinopides von Chios im 5. vorchristlichen Jahrhundert. Da das Streben dieser Männer zweifellos auf eine rationale Naturerklärung gerichtet war, ist anzunehmen, daß sie auch in diesem Fall ihre Gründe gehabt haben, unter der Hülle einer alten Sternsage einen sachlich richtigen Kern, zu vermuten.

Wir haben es leicht, über einen so kindlichen Erklärungsversuch des Phänomens der Milchstraße zu lächeln, und mögen wohl geneigt sein, darin nichts weiter zu sehen als eine schön erfundene Fabel. Denn wer mit den Grundbegriffen der heutigen Astronomie vertraut ist, weiß, daß das Licht der Milchstraße von zahllosen weit entfernten Sternen herrührt, die in Wirklichkeit gleichrangige Geschwister der Sonne, aber keineswegs ihre Kinder sind.

Selbst ein nur scheinbares Zusammenfallen der jährlichen Sonnenbahn (Ekliptik) mit der Milchstraße zu irgendeinem vergangenen Zeitpunkt kann es niemals gegeben haben. In der Gegenwart sind nämlich beide Kreise um ungefähr 60 Grad gegeneinander geneigt. Die Milchstraße im ganzen hat ihre Lage sicher nicht geändert, weil die Bewegungen ihrer Gliedsterne überwiegend parallel zur Ebene ihrer größten Ausdehnung erfolgen. Die Erdbahn, deren Spiegelbild die scheinbare Jahreswanderung der Sonne durch die Ekliptik ist, wird zwar durch die Anziehungskräfte der anderen Planeten fortwährend um sehr kleine Beträge verändert. Aber weil die Bahnebenen aller dieser Massen selbst nur kleine Abweichungen von der Ekliptik aufweisen, könnten sie diese unmöglich um zwei Drittel eines rechten Winkels drehen.

Um endlich noch das Unwahrscheinlichste kurz in Erwägung zu ziehen: Auch katastrophale Störungen der Erdbahn durch die hypothetische Annäherung eines fremden Sterns könnten nicht dahin führen, uns die Lösung des Rätsels um die Herkunft jener alten Sternsage zu erleichtern. Zwar wäre es denkbar, daß auf solche Weise die Bahn eines Planeten in eine völlig andere Lage gebracht worden wäre. Aber es ist ausgeschlossen, daß nach einer derartigen Katastrophe alle Planetenbahnen wiederum, wie es jetzt der Fall ist, nahezu in einer Ebene gelegen und kreisähnlich geworden wären. Verlagerungen der Rotationsachse der Erde aber, welche ebenfalls in diesem Zusammenhang von manchen Schriftstellern in Betracht gezogen worden sind, würden — was eigentlich selbstverständlich ist — an der gegenseitigen Lage von scheinbarer Sonnenbahn und Milchstraße überhaupt nichts ändern.

Ueberlegungen dieser Art sind gewiß schon oft und von allen kompetenten Beurteilern mit dem gleichen negativen Ergebnis angestellt worden. Aber etwas anderes war dabei gar nicht zu erwarten. Denn wenn die Sternsage, deren Herkunft es zu untersuchen gilt, wirklich ein hohes Alter hat, so müßte sie auf der Deutung schlichter Naturbeobachtungen beruhen, und nicht die Erfassung eines bereits der wissenschaftlichen Sternkunde angehörenden Begriffes zur Voraussetzung haben, nämlich die scheinbare Jahres bahn der Sonne. Denn niemals, ausgenommen allein die überaus seltenen und kurzen Augenblicke totaler Sonnenfinsternisse, sieht man ja die Sonne direkt vor dem Hintergrund des Fixsternhimmels. Ihre Jahresbahn gegenüber diesem kann demnach nur durch besondere, wenn auch ziemlich rohe Messungen ermittelt werden. Für die Griechen des 5. Jahrhunderts war die jährliche Wanderung der Sonne rund um den Himmel in einem (gegenüber dem Himmelsäquator) „schiefen Kreise“ noch eine so schwer begreifliche Neuigkeit, daß der oben genannte Oinopides, wie uns durch Aetios berichtet wird, es wagen durfte, dies als seine eigene Entdeckung auszugeben, obwohl er es entweder unmittelbar oder durch Vermittlung der Pythagoräer von den Aegyptern gelernt hatte. Aber auch dort ist wahrscheinlich die früheste Beachtung des Tierkreises als Wanderweg des Mondes und der Planeten der erst später gewonnenen Erkenntnis seiner Bedeutung als Jahresbahn der Sonne vorausgegangen. Man befand sich also auf falscher Fährte, wenn man seit der Spätantike die alte Erklärung der Milchstraße als einstigen Weg der Sonne mit der Ekliptik in Zusammenhang bringen wollte, und man darf sich über das Scheitern dieses Versuches nicht wundern.

Bahn des Sonnenwagens in naiver Vorstellungsweise ist doch vielmehr der jeweilige Tages bogen der Sonne vom Aufgang bis zum Untergang. Dieser ändert seine Höhe für einen bestimmten Ort regelmäßig wiederkehrend im Laufe des Jahres. Dagegen sind die nachweisbaren säkularen Veränderungen so geringfügig, daß sie ohne genaue Messungen nicht festgestellt werden konnten. Anders steht es mit dem Neigungswinkel zwischen Himmelsäquator und Milchstraßenkreis, der infolge der sogenannten Präzession, daß heißt einer kreiselnden Bewegung der Erdachse längs eines Kegelmantels, in weiten Grenzen veränderlich ist. Damit verändert sich aber auch die Lage der Milchstraße gegen den Horizont eines bestimmten Ortes zu jedem gegebenen Zeitpunkt des Sterntages. Daß in Wahrheit die Milchstraße das Ruhende, die Lage der Erde im Raum das Veränderliche ist, spielt für die geozentrische Betrachtung keine Rolle. Tatsache ist, daß der soeben genannte Winkel, der gegenwärtig rund 62 Grad mißt, in den letzten 6000 Jahren mit zunehmender Geschwindigkeit gewachsen ist und während des 5. und 4. vorchristlichen Jahrtausends nur ungefähr 37 Grad betrug, mit dem Minimum von 36 Hl Grad etwa um — 4300.

Dies hatte zur Folge, daß damals einerseits bis herauf in unsere Breiten im Laufe des Jahres nach und nach die ganze Milchstraße sichtbar wurde, während gegenwärtig etwa ein Viertel derselben niemals über unserem Horizont aufgeht; anderseits kulminierte sie bis hinab nach Italien, Griechenland und Kleinasien auch bei steilster Lage stets südlich des Zenits. In der Mitte der Sommernächte spannte sich ihr Bogen in größtmöglicher Höhe über dem Horizont, wobei zugleich ihre hellsten Teile am aufsteigenden Ast standen; das Aufgangsazimut war abends stark gegen Nordosten, das Untergangsazimut morgens gegen Nordwesten verschoben. In den Winternächten dagegen lagen die nur schwach leuchtenden Abschnitte zwischen den Bildern Fuhrmann und Schiff Argo flach über dem Südhorizont, die Azimute des Aufganges am Abend und des Unterganges am Morgen waren gegen Süden verschoben. In den Zwischen Jahreszeiten nahm die Milchstraße eine mittlere Lage zum Horizont ein.

Es ist wohl überflüssig, in aller Ausführlichkeit die analogen Aussagen über die allgemein bekannten Tagesbahnen der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten hier auszusprechen; die Aehnlichkeit drängt sich von selbst auf. Allerdings muß zugestanden werden, daß für einen messenden Astronomen noch immer erhebliche Unterschiede zwischen den Tagesbogen der Sonne und dem Verlauf der Milchstraße in den jeweils folgenden Nächten bestanden hätten. Für naive Beschauer mußte jedoch trotzdem der Eindruck vorherrschen, daß die Milchstraße nachts ungefähr dort am Himmel zu sehen war, wo tags zuvor die Sonne ihre Bahn gezogen hatte. Was lag also näher als der Gedanke an einen tieferen Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen und ihrem jahreszeitlichen Wechsel?

Einmal ersonnen, folgte dann die Deutung der Entstehung des einen aus dem anderen ihrer eigenen inneren Logik. Da der Himmel als feste Schale gedacht wurde, mußte die Spur an ihrem Ort bleiben, während der Sonnenwagen andere Wege fahren konnte. Folglich mußte man, die allmählich immer schlechter werdende Uebereinstimmung zwischen den Tagesbogen der Sonne und der nächtlichen Lage der Milchstraße gewahrend, nicht dieser, sondern jener die eingetretene Aenderung zuschreiben. Das Aufkommen einer solchen Auffassung würde noch begünstigt worden sein, wenn in der kritischen Zeit, das heißt um — 2000 herum, die Ueber-lieferungsträger ihre Wohnsitze in nordsüdlicher Richtung gewechselt hätten, weil sich dabei tatsächlich eine Veränderung der scheinbaren Tagesbogen der Sonne ergibt. Es liegt nahe, hier an die Einwanderung der Jonier in ihre Siedlungsgebiete an den Küsten der Aegäis zu denken.

Aber die jahrhundertealten Beobachtungen der Priestergelehrten Mesopotamiens und Aegyptens ließen keine allmählich fortschreitende Verlagerung der Sonnenbahn erkennen. Und die Jahresbahn, welche man dort früher als bei den Griechen als solche erfaßt hatte, unterschied sich damals nicht weniger als heute von dem gänzlich anderen Verlauf der Milchstraße. So konnte man die alte Ueberlieferung nicht mehr anders verstehen, als daß man eben einen einmaligen plötzlichen Wechsel der Bahn des Sonnenwagens annahm.

Dazu kam ein weiteres Mißverständnis: Milchstraße und Ekliptik waren (damals mehr als heute) einander „entgegengesetzt“ insofern, als sie auf große Strecken sogar auf verschiedenen Seiten des Himmelsäquators lagen. Ferner ist die Richtung der früher allein beachteten täglichen Bewegung der Sonne ihrer jährlichen Wanderung durch den Tierkreis „entgegengesetzt“. Dieses zweifache „Entgegengesetztsein“, an dem an sich nichts Geheimnisvolles ist, war wohl schon in den wortkargen Aufzeichnungen der älteren Naturphilosophen — falls sie ihre Lehren überhaupt niederschrieben — ungenügend erläutert und wurde später dahingehend mißverstanden, daß die Sonne sogar die Richtung ihres Laufes umgekehrt hätte. Sagenbildung und Kunstdichtung haben dieses-Motiv ausgiebig verwertet und damit zur Befestigung des Irrtums beigetragen.

Alles zusammenfassend, kommen wir zu dem Schluß, daß die alte Sage, wonach die Milchstraße die Spur einer einstigen Bahn der Sonne sei, sich auf tatsächliche naive Naturbeobachtungen zurückführen läßt, die in der langen Zeitspanne zwischen etwa 5500 und 2500 vor Christus in der Breitenzone von ungefähr 35 bis 55 Grad gemacht werden konnten. Die lange Dauer des Zeitraumes, innerhalb dessen die Aehnlichkeit zwischen den Tagesbogen der Sonne und dem Verlauf der Milchstraße in den jeweils folgenden Nächten mit geringen Aenderungen erhalten blieb, genügt, um die Ausbildung einer fest verwurzelten volkstümlichen Ueberlieferung, beispielsweise bei den Joniern, zu erklären. Objektiv vollzog sich die Aenderung der astronomischen Gegebenheiten stetig, wenn auch mit allmählich beschleunigter Geschwindigkeit. Die Entstehung des Irrtums, daß eine plötzliche Verlagerung der Sonnenbahn stattgefunden hätte, mag durch eine Wanderung der Ueberlieferungsträger begünstigt worden sein, ist aber vor allem durch begriffliche Mißverständnisse verursacht worden. Völlig ungerechtfertigt wäre der Rückschluß auf wirkliche katastrophenartige Störungen der Sonnenbahn, wie solche von unkritischen und astronomisch nicht genügend geschulten Schriftstellern (z. B. Velikovsky) voreilig angenommen worden sind.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung