Omnipräsente Heimat - Heimat kann bezogen sein auf eine unveränderbare Herkunft. Es gibt sie aber auch im Sinne von diversen "Compartments" unseres Lebens. - © iStock / Kemter (Farbmanipulation: Rainer Messerklinger)

Rainer Gross: "Heimat gibt es auch im Plural"

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Was steckt hinter der Hochkonjunktur von Heimatbildern? Psychoanalytiker Rainer Gross beleuchtet gemischte Gefühle.

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Was steckt hinter der Hochkonjunktur von Heimatbildern? Psychoanalytiker Rainer Gross beleuchtet gemischte Gefühle.

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Mit seinem neuen Buch "Heimat" denkt der ehemalige Primarius des Landesklinikum Hollabrunn wieder über aktuelle gesellschaftliche Veränderungen nach. Anlässlich der Buchpräsentation traf ihn die FURCHE zum Gespräch in seiner Praxis.

DIE FURCHE: Der Soziologe Richard Sennett hat sich bereits in den 1990er-Jahren dem "flexiblen Menschen" gewidmet - ein Typus, der durch neue gesellschaftliche Anforderungen wie Flexibilisierung und Selbstoptimierung geprägt ist. Also ein Mensch, der nirgendwo mehr richtig zu Hause ist ...
Rainer Gross: Damals begann eine Entwicklung schmerzlich spürbar zu werden, die dazu geführt hat, dass der Heimatbegriff zuletzt eine umfassende Renaissance erfahren hat. Denn das Sprechen über "Heimat" hat immer dann Konjunktur, wenn diese als eine bedrohte oder schon verlorene erlebt wird. Der Originaltitel von Sennetts Buch -"Corrosion of Character" - trifft es gut, weil heute fast alle tragenden Strukturen brüchiger geworden sind. Viele Menschen reagieren auf ein Grundgefühl von Verunsicherung und Entfremdung und verspüren verstärkt die Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Und interessanterweise nicht mehr nur auf der Seite der Konservativen bis Reaktionären, wo "Heimat" immer schon ein Kernbegriff war. Heute zeigt sich dieses Bedürfnis auch bei jüngeren, urbanen, liberal geprägten Menschen.

DIE FURCHE: Ist das eine Reaktion auf eine Globalisierung, die man so nicht gewollt hat?
Gross:
Aktuelle Anforderungen wie "Selbstverantwortung" oder "Selbstoptimierung" stehen für einen Prozess der Vereinzelung. Hinzu kommt das Gefühl einer bedrohten Identität: Gemäß Norbert Elias benötigt eine gelingende Identitätsfindung eine "Ich-" und eine "Wir-Schicht" im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Der Psychoanalytiker Vamik Volkan beschreibt diese "Wir-Schicht" als Zelt: An den Zeltwänden sind die kollektiven Mythen und Geschichten aufgezeichnet; das ist die zweite Identitätsschicht. Somit gibt es eine innere Kleidungsschicht wie Hemd und Hose sowie eine äußere Schicht wie einen Mantel. Bei diesem Mantel haben viele Menschen das Gefühl, dass er nicht mehr wärmt, weil der Wind durchpfeift.

DIE FURCHE: Sie analysieren die aktuellen "Ängste vor Nivellierung, Überfremdung und letztlich Zerstörung unserer Identität". Bei benachteiligten Bevölkerungsgruppen tauche dann häufig ein psychisches Muster auf, das zum Schwarz-Weiß-Denken neigt und strikte Entweder-Oder-Lösungen bevorzugt. Wie lässt sich das erklären?
Gross:
Identitätsstärkung funktioniert heute durch Betonung der Differenz. Inklusion und Exklusion werden dann rasch absolut gesetzt. Für die psychische Stabilität hat dieses "Drinnen versus Draußen" bzw. "Freund versus Feind"-Schema durchaus seine Vorteile. Es macht das Leben einfacher. Selbst gut ausgebildete Menschen haben heute oft das Gefühl, dass die Welt immer unübersichtlicher wird. Was Niklas Luhmann als "Komplexitätsreduktion" bezeichnet hat, ist wohl allgemein erwünscht. Schwarz-Weiß-Denken soll das Leben wieder überschaubarer machen ...

DIE FURCHE: ... und fördert auch die Akzeptanz für autoritäre Politik und eine starke Führerfigur, ebenso wie die Ablenkung der Wut auf Außenfeinde ...
Gross:
Es gibt eine Binsenweisheit unter Therapeuten: "Nichts, was die Gruppe so sehr eint, wie der Hass auf den Außenfeind." Leider ist da etwas dran. Politiker, deren Bewegungen seit Langem in der Herstellung von Außenfeinden geübt sind, tun sich da leichter. Wenn Menschen materielle Verluste hinnehmen müssen und weniger Anerkennung bekommen - auch das emotionale Sein bestimmt das Bewusstsein -, ist es der letzte Selbstwert-Benefit, wenn es anderen noch schlechter geht.

DIE FURCHE: Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson verband Totalitarismus mit einer strikt exkludierenden Identität, beschrieb aber auch ein Konzept von psychischer "Ganzheit" mit organischen und flüssigen Grenzen. Was bedeutet das für den Heimatbegriff?
Gross: Heimat kann bezogen sein auf eine unveränderbare Herkunft, dann gibt es sie nur im Singular. Es gibt sie aber auch im Plural, im Sinne von diversen "Compartments" unseres Lebens. Also eine "Patchwork-Heimat": Zum Beispiel man fühlt sich zu Hause in der Beziehung zu einem Partner oder einer Partnerin, in der Familie, am Arbeitsplatz, in einer politischen oder auch spirituellen Heimat. Das passt zu neueren Konzepten der Psychoanalyse, wo es weniger darum geht, tief im Unbewussten zu schürfen, sondern nebeneinanderliegende Anteile des Selbst bewusstseinsfähig und auch genussfähig zu machen. Das wären dann mehrere "Heimaten" - was im Deutschen ja nach wie vor fremdartig klingt.

DIE FURCHE: 2015 ist eine Gruppe von Flüchtlingen bei Spielfeld gegen die Staatsgewalt über die Grenze "geschwappt". Wenn Dämme brechen, geht das mit tief sitzenden Ängsten einher. Das hat schon der Kulturwissenschafter Klaus Theweleit in seinem Buch "Männerfantasien" anhand historischer Quellen aus der Zwischenkriegszeit dargestellt. Wie bedeutsam ist dieses Bild?
Gross: Symbolisch ist das höchst aufgeladen, weil es einen Kontrollverlust impliziert. Kein Wunder, dass im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise oft Metaphern einer Naturkatastrophe herangezogen wurden wie "Welle" oder "Tsunami". Die Angst dahinter ist, dass ein plötzlich hereinbrechendes Ereignis über mich hinwegschwappt und meine Abwehrkräfte übersteigt. Das wäre auch eine grobe Definition von Trauma.

DIE FURCHE: Ihnen geht es um die große Frage, wie man seine eigenen Wurzeln und Traditionen erhalten kann, ohne dabei ausgrenzend zu werden -oder aber sich entwurzelt und heimatlos zu fühlen?
Gross: Vorteilhaft wäre, die Realität anzuerkennen, dass es eine ethnisch-politische Einheit im Sinne eines "verlorenen Paradieses" nicht geben wird. Man muss ja nicht darüber begeistert sein. Aber je mehr Stützen oder Quellen von Identität, von Sich-Zuhause-Fühlen es gibt, desto weniger ist man auf eine monolithische Form von Zugehörigkeit angewiesen.

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