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Randhemerkungen zur woche

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„ER LEBT ÜBER SEINE VERHÄLTNISSE. ER BENÜTZT DIE STRASSENBAHN“ wird bald der Herrenfahrer im Zeitalter der Motorisierung und der erhöhten Tarife zum Tramwaybenützer sagen. In der Tat ist es so, daß die geplante Erhöhung der Straßenbahnkarten in Wien scheinbar einigermaßen dadurch ausgeglichen werden soll, daß man vorsorglich bereits vor einiger Zeit den Zoll auf Autos erheblich ermäßigt hat! Wer will, kann also von der' teuren Straßenbahn auf Autos „ausweichen“. Das Fahren mit der Straßenbahn wird für eine Familie zu einem Luxus (der hoffentlich die Finanzämter nicht zur Anwendung des Prinzips der Verbrauchsbesteuerung veranlassen wird). Nehmen wir einen Familienvater, der sein Geld unter die Leute bringen will und zu diesem Zweck eine Straßenbahnfahrt mit seinen drei Kindern unternimmt: An Wochentagen wird ihm dieses Vergnügen dreimal je'einen Schilling plus zweimal 3.80, das sind insgesamt 70.60 S kosten. Wäre er Autofahrer, könnte er mit diesem Geld bei einem Kleinwagen ungefähr 30 km fahren, wenn ihm auch nicht der gleiche Komfort geboten würde wie auf der Straßenbahn, die ihm doch zuweilen und ohne Preisaufschlag ein Vergnügen gibt, welches dem einer Fahrt auf der Berg- und Talbahn in nichts nachsteht. Um den Vorteil jener, die es sich leisten können, die Straßenbahn zu benützen, einigermaßen auch den Autobesitzern zukommen zu lassen, gewährt die Finanzverwaltung allen Auto-eigentumern, die den Nachweis erbringen können, daß sie im Interesse des Geschäftes mit ihrem Wagen unterwegs waren, die Möglichkeit, je gefahrenen Kilometer nicht weniger als 1.50 S vom einkommensteuerpflichtigen Betrag abzusetzen. Darüber hinaus Itaben die Eigentümer von Autos noch die Möglichkeit, wenn sie ihre Wagen zur Erzielung von Einkünften aus selbständiger Arbeit benutzen, eine Amortisationsquote für den Wagen abzusetzen (während der Fußgeher selbstverständlich die Abnützung seiner Schuhsohlen nicht in Rechnung stellen darf, es sei denn, er erhält bei Dienstwegen sogenannte Wegegelder). So ergibt sich die ergötzliche Tatsache, daß, wer sich per Auto fortbewegt, von der Finanzverwaltung subventioniert wird, wer sich dagegen das „Vergnügen“ einer Straßenbahnfahrt (einschließlich der „Innehabung“ von Kindern) leistet, dieses Vergnügen selbst und sehr teuer bezahlen muß. Das Groteske ist, daß über die Höhe der Straßenbahntarife Menschen entscheiden, die gewohnt sind (in einer Art Nachholkonsum), nur mehr mittels Auto sich fortzubewegen, während über die Höhe der Begünstigung der Autoberufsfahrer straßenbahnfahrende Finanzbeamte zu „befinden“ haben. *

DIE „MUCH DER FROMMEN DENKUNGSART“ ist ein Dichterwort und kommt aus dem freiheits-beflissenen „Wilhelm Teil“ Schillers. Wenn in der letzten Zeit von freiheitlicher Ausweitung des Milch-preises die Rede war und sogar den Ministerrat befaßte, dann schillerte die fromme Milch ins Politische, sie war weniger weiß als einmal grün und das andere Mal fot. Wenn von Erhöhungen die Rede ist, sehen auch die nicht Rotbebrillten rot. Es steht bloß jenen, die selbst das Straßenbahnfahren verteuern, schlecht an, über andere loszuziehen. Bekanntlich entstand das Defizit des Milchausgleichsfonds nach der sogenannten Auf fettung von 3 auf 3% Prozent. Das Finanzministerium hat für die beiden ersten Monate des laufenden Jahres wieder einmal in den Steuersäckel gegriffen und für den Rest des Jahres 19SS soll ein Bundesgesetz (rückwirkend bis 1. Jänner) die Milchpreisstützung von 20 auf 22 Groschen erhöhen und — Bundjst Bund — Bundesmittel dafür heranziehen. Was der Konsument also auf der einen Seite nicht direkt zahlt, begleicht er über seine Steuern. Die Produzenten haben an Hand der Verbrauchsziffern festgestellt, daß in Oesterreich der Trinkmilchkonsum im Jahr je Person bei 110 Litern liegt. Eine Erhöhung des Verbraucherpreises um 10 Groschen würde also jährlich 11 Schilling erfordern — gleich zwei Liter Bier, fügt man hinzu und ermangelt nicht darauf hinzuweisen, daß im Brauwirtschaftsjahr 1953/54 der Ausstoß 400 Millionen Liter, gleich 52 Liter auf den Kopf, betrug. Ein bitterer (Gersten-) Stoß, wie man vermeint. Der Stoß einer psychologischen Wirkwog (von materiellen Erwägungen abgesehen) jeder Preiserhöhung wird übersehen. Wer einen Stoß erhält, gibt ihn — natürlich an den Schwächeren — weiter. Anstatt die Fronten zwischen Produzent und Konsument aufzulockern, werden sie verschärft. Es stimmt, daß die Gestehungskosten für Kraftfutter, für Löhne angestiegen sind. Man muß aber beachten, daß — nach der letzten Volkszählung 1951 — in den Berufsgruppen Verschiebungen gegenüber 1934 eingetreten sind. In der Land- und Forstwirtschaft ist eine Abnahme von 5 Prozent zu verzeichnen, Industrie und Gewerbe nahmen um 4 Prozent, freie Berufe und öffentliche Dienste um

2 Prozent zu-, die Zahl der Rentner (kein gesegneter Stand) hat sich, zusammen mit den Pensionisten um

3 Prozent erhöht. Hier wird die teuere Milch keine (politisch) frömmere Denkungsart erzeugen.

DIE FREILASSUNG KARDINAL M1NDSZENTYS wurde zu einem Zeitpunkt bekanntgegeben, als die weltweiten internationalen Aspekte dieser neuen „Friedensgeste“ des Ostens unmittelbar vor der Genfer Konferenz weitere Fragen ausschließen müßten. Der „Fall Mindszenty“ schien gut genug, zu einer politischen Dienstleistung aus der Versenkung geholt zu werden. Sonst wäre er weiterhin „begraben und vergessen“. Bevor man Uber einen solchen klaren Beweis „kommunistischen Zynismus“ mißbilligend den Kopf schüttelt, tut man gut daran, sich in Erinnerung zu rufen, daß vor sechs Jahren viele westliche Politiker und Journalisten ihr möglichstes getan haben, um aus dem MinAszenty-Prozeß politisches Kapital schlagen zu können. Damit besorgten sie das Geschäft jener, denen es viel an einer Ver-bergung ihrer wahren Motive lag. Heute handelt es sich um eine Konzession an den Westen, um einen Schachzug im weltpolitischen Spiel der Kräfte, der innenpolitisch zu nichts verpflichtet, verpflichten soll. Diese Konzession ist sehr präzise in zwei Sätzen niedergelegt: „Das ungarische Justizministerium gestattet Joseph Mindszenty, mit Rücksicht auf sein Ersuchen und auf Ersuchen des römisch-katholischen Bischofskollegiums sowie auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand die Unterbrechung seiner Kerkerstrafe. Zu seinem Aufenthaltsort hat das Ministerium ein von dem Bischofskollegium zur Verfügung gestelltes kirchliches Gebäude bestimmt.“ Klar sind auch die Begleitumstände. Am 14. Juli empfing der Vorsitzende des ungarischen Ministerrates Andreas Hegedüs die Vertreter des katholischen Bischofshollcgiums, den Erzbischof von Erlau Doktor Gyula Czapik, den griechisch-katholischen Diözesan-bischof Miklos Dudas und den apostolischen Administrator von Gran, Diözesanbischof von Csanad, Doktor Endre Hamvas, Hamvas ist gleichzeitig Diözesan~ bischof von Csanad und apostolischer Administrator von Gran. Es waren also insgesamt drei Bischöfe bei Hegedüs. Ueber den Inhalt der Unterredung wurde nichts bekannt. Mann kann jedoch mit einiger Gewißheit annehmen, daß zwischen dieser Begegnung und dem ministeriellen Kommunique, zwei Tage später, ein 'Zusammenhang besteht. Westliche Agenturen haben gemeldet, daß Ministerpräsident Hegedüs sich in den letzten Wochen vermutlich in Moskau aufhielt. Ob dies zutrifft oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist es, zu wissen, daß die Nachricht über Miudszenty in das Moskauer Konzept paßt, daher mußte der Wink von dort kommen. An eine „Flurbereinigung“ in Ungarn selbst, an eine Entfernung eines der Haupthindernisse, die einem „Gespräch“ im Wege stehen, dachte man, wenn überhaupt, dann nur sehr am Rande — zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkt.

HÄSSLICHE WORTE GEGEN DIE KATHOLISCHE KIRCHE hat der anglikanische Oberhirt, der Erz-bischof von Canterbury, Dr. Fisher, kürzlich in einer kirchlichen Versammlung gefunden. „Die römischkatholische Kirche“, so sagte er, „glaubt an ein kirchliches Apartheid, das genau so unbeugsam und bedrohlich ist wie jeder politische Eiserne Vorhang.“ Er fuhr weiter fort, Vergleiche zwischen dem politischen System der Apartheid und der katholischen Kirche zu ziehen, indem er Ausdrücke wie „Dieses große Uebel“ benützte. Wir wollen nun die richtige Antwort auf die Frage finden: „Was soll das eigentlich? Was bedeutet dieser Angriff? Und warum gerade jetzt?“ Nach der Meinung von Kennern ist die Antwort auf inner-kirchenpolitischer Ebene zu finden. Ein besonders wichtiges Thema beschäftigt gegenwärtig die anglikanische Kirche, und es droht, diese breitverzweigte christliche Gemeinschaft von oben bis unten entzweizuspalten. Dieses Thema heißt: Soll die Kirche von Südindien ein vollgültiges Glied der anglikanischen werden oder soll sie eine alleinstehende, selbständige protestantische Sekte sein mit ihren Wurzeln in England wie die Methodisten, „Congregationalists“ und „Baptists“? Der Kern dieses verzwickten Problems, das die Gemüter seit Jahren erregt und nun, wenn möglich, geregelt werden sollte, liegt in der Einstellung der verschiedenen Zweige der anglikanischen Kirche zur Bischofsweihe. Die protestantische Mehrheit unter den Bischöfen, Pfarrern und Laien will die Eingliederung der Kirche in Südindien haben sowie eine Annäherung, sogar eine Inkorporation der nonkonformistischen Sekten des Commonwealths in einer allumfassenden anglikanischen Kirchengemeinschaft. Die „katholischen“ Hochanglikaner aber sehen darin eine Auflockerung ad absurdum der anglikanischen Gemeinschaft und einen gefährlichen Widerspruch, der durch keine schönen Wort verborgen werden kann. Es ist übrigens ziemlich offensichtlich, daß der stillschweigende Rücktritt des beliebten hochanglikanischen Bischofs von London, Dr. Wand, auf diesen Fragenkreis zurückzuführen ist. Ebenso offenbar, daß Dr. Fisher durch seine Angriffe den antikatholischen Flügel stärken und seinen Führungsanspruch in einer radikalisierten unbeugsamen romfeindlichen Kirche scharf hervorhebt.

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