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Seele in Tablettenform

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Die amerikanische pharmazeutische Industrie stellt alljährlich rund 15 Milliarden Kapseln „mind drugs“ her. Auf diese werden Jahr für Jahr rund 200 Millionen Rezepte ausgestellt — ein Fünftel aller Verschreibungen in den USA. Der tatsächliche Verbrauch wird auf das Doppelte geschätzt, da sich ein umfangreicher schwarzer Markt für die an sich rezeptpflichtigen Mentaldrogen gebildet hat. Für Europa liegen im allgemeinen nicht so exakte Zahlen vor, und der Konsum dürfte — wie bei den meisten Moden und Unarten — „nicht ganz“ den amerikanischen Standard erreichen, aber doch sehr beachtlich sein.

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Die amerikanische pharmazeutische Industrie stellt alljährlich rund 15 Milliarden Kapseln „mind drugs“ her. Auf diese werden Jahr für Jahr rund 200 Millionen Rezepte ausgestellt — ein Fünftel aller Verschreibungen in den USA. Der tatsächliche Verbrauch wird auf das Doppelte geschätzt, da sich ein umfangreicher schwarzer Markt für die an sich rezeptpflichtigen Mentaldrogen gebildet hat. Für Europa liegen im allgemeinen nicht so exakte Zahlen vor, und der Konsum dürfte — wie bei den meisten Moden und Unarten — „nicht ganz“ den amerikanischen Standard erreichen, aber doch sehr beachtlich sein.

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Was ist unter „mind drugs“, unter Psychodrogen zu verstehen? Sie umfassen hauptsächlich zwei große Gruppen von Präparaten, für die die Amerikaner — wie für alles, das einen gewissen Popularitätsgrad erreicht hat — sehr farbige SlangAusdrücke gefunden haben. Sie sprechen einerseits von „goof balls“ und „pep puls“, anderseits von „tranquies“ (tranquillizers). Gemeint sind die Stimulantia und Sedativa, die Aufputsch- beziehungsweise Be-ruhigungs- und Schlafmittel.

Die „mind drugs“ dürfen nicht mit den Rauschgiften verwechselt werden, aber sie haben mit diesen gemeinsam, daß auch sie „habit-for-ming“ (gewohnheitsbildend) sind, daß also entweder — das besonders bei Barbituraten, aber auch bei anderen Verbindungen — eine echte physische Süchtigkeit oder zumindest die Neigung entsteht, sich laufend die Annehmlichkeit zu verschaffen, die der Genuß dieser Präparate mit sich bringt. Daß angesichts der enormen Verbrauchsziffern die Sucht- und Gewöhnungsfälle eine entscheidende Rolle spielen, liegt auf der Hand.

Dieser alarmierende Tatbestand darf uns aber nicht zu Fehlhaltungen verleiten, zu einem romantisierenden oder moralisierenden Pillen-Purita-nismus, der alle Medikamente pauschal verurteilt Er darf uns auch nicht zu dem Trugschluß führen, in dem ständigen Anwachsen des gesamten Arzneimittelkonsums an sich schon etwas Schädliches zu sehen. Für diesen gibt es auch zahlreiche durchaus positive Gründe. Der wichtigste Grund ist zweifellos das Faktum, daß dank der imponierenden Leistungen der pharmazeutischen Forschung immer mehr Krankheiten medikamentös behandelbar werden. Für Diabetes, Rheuma, TBC, Herz- und Kreislaufschäden sowie für Psychosen benötigte man früher herzlich wenig Medikamente, einfach deswegen, weil keine geeigneten existierten. Heute sind viele dieser Krankheiten kausal — von der Ursache her — behandelbar und daher auch ausheilbar. Andere Erkrankungen — und hier ist der Medikamentenverbrauch besonders groß — können mit pharmazeutischer Hilfe oft auf Jahrzehnte hinaus stationär gehalten und so weit gedämpft werden, daß der Patient in hohem Maß beschwerdefrei und arbeitsfähig ist.

Hier warnend den Finger wegen möglicher schädlicher Nebeneffekte der Medikamente zu erheben wäre verfehlt, denn ohne sie wäre der Patient tot oder ein Krüppel.

Ein weiterer Grund für den steigenden Medikamentenverbrauch ist die höhere Lebenserwartung der Bevölkerung. Allein in Österreich ist die Zahl der über 65jährigen von 335.937 im Jahr 1961 auf ungefähr 915.500 im Jahr 1970 angestiegen, hat sich also in einem Dezennium rund verdreifacht. Daß aber der Medikamentenbedarf bei alten Menschen größer ist als bei jüngeren, ist einleuchtend.

Dank Medikamenten mit stark gesteigerter Wirksamkeit konnte die Durchschnittsdauer der Spitalsaufenthalte von mehr als 30 Tagen in der Nachkriegszeit auf 17,7 Tage im Jahr 1968 verkürzt werden. Das ist prinzipiell erfreulich, wenn auch gerade hier — im Hinblick auf den Mangel an Pflegepersonal und die hohen Kosten der Spitalspflege — die Gefahr eines übertriebenen Medikamenteneinsatzes nicht ganz ausgeschlossen werden kann.

Etwas ambivalent ist der Einfluß der immer stärker ausgebauten Sozialmedizin auf den Medikamentenverbrauch. Auf der einen Seite leistet sie einen echten Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit, auf der anderen fördert sie — zumindest in der unvollkommenen Form, in der sie heute praktiziert wird — zweifellos den Medikamentenmißbrauch. Die weit verbreitete Mentalität, man müsse für seinen Krankenkassenbeitrag etwas bekommen und man könne von Dingen, die — sieht man von der Rezeptgebühr ab — umsonst sind, nicht genug haben, führt sehr häufig zu Fehlhaltungen.

Eine weitere Ursache des steigenden Arzneimittelverbrauchs ist die zunehmende Unfallsrate. Die Zahl der jährlichen Verkehrsunfälle liegt in Österreich bei 70.000. Über ihre Eindämmung wird viel diskutiert und dafür manches — zumeist wenig Zielführendes — getan. Selten erwähnt wird das Faktum, daß sie von der Zahl der Wintersportunfälle — die bei 85.000 jährlich liegt und rund 1,3 Milliarden Schilling Behandlungskosten verursacht — noch übertroffen wird. Der hektische und (etwa durch Seilbahnen und Lifte) allzu mechanisierte Sportbetrieb führt zu bedenklichen Auswüchsen der an sich lobenswerten körperlichen Betätigung. Als sehr relevante Unfallsursache kamen während der letzten Jahre in manchen Ländern auch noch die sich häufenden Gewaltverbrechen hinzu.

Durch all dies steigt der Konsum an Medikamenten. Seine Ursachen sind nicht erfreulich, aber sie können nicht den Pharmazeutika angelastet werden. Im Gegenteil, die Verdienste der modernen Heilmittel sind unbestreitbar. Es bedeutet keineswegs, diese schmälern zu wollen, wenn man zugleich auch auf den Mißbrauch hinweist, der mit ihnen betrieben wird.

Nicht alle Medikamente sind in gleichem Maß mißbrauchsanfällig,wenn auch die Fehlverwendung bei keinem völlig ausgeschlossen werden kann. Hypochondrie, pervertierte Renommiersucht und Tachinierertum sind nur einige der zahllosen Motive dafür. Bestimmte Heilmittel bieten sich aber für den Mißbrauch besonders an. Das beginnt bei den Pur-gantia und endet bei den schon erwähnten Mentaldrogen.

Harmlos sind diese Präparate bei dauerndem Gebrauch alle nicht — nicht einmal die Purgantia. Auch sie können die Darmflora zerstören, die Darmträgheit fördern und diverse Stoffwechselschäden nach sich ziehen. Noch bei weitem bedenklicher ist der Konsum von Analgetika (schmerzstillende Mittel). Die Statistik des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger Österreichs läßt erkennen, daß allein auf diese etwa 10 Prozent des Medikamentenaufwands der Krankenkassen entfallen. Gewiß ist der Indikationsbereich der Analgetika besonders groß, aber der Prozentsatz ist trotzdem beachtlich. Außerdem werden viele Analgetika rezeptfrei abgegeben und in großem Umfang auf private Rechnung gekauft. Psychogene Migränen und sonstige Symptomschmerzen werden „der Einfachheit halber“ analgetisch behandelt. Auch in diesem Bereich sind Suchtfälle nicht ausgeschlossen. Die „mind drugs“ sind aber zweifellos das ergiebigste Feld des Medi-kamentenmißbrauchs. Durch sie ist die moderne Menschheit besonders gefährdet, weil die industrielle Leistungsgesellschaft eine spezifische Disposition für sie entstehen läßt. Die Tendenz zur Rationalisierung, zur Arbeitserleichterung mit technischen Hilfsmitteln fördert auch die Geneigtheit zu einem Abbau der psychischen Mühen auf „technischem“ Weg. Die diesbezüglichen Erfolge der pharmazeutischen Präparate im Krankheitsfall verlocken dazu, sich ihrer auch zum Zwecke einer „problemloseren“ Gesundheit und zwecks Leistungssteigerung zu bedienen.

Die materialistische Grundhaltung unserer Zeit, die das Mentale prinzipiell als Ausfluß des Körperlichen betrachtet, begünstigt die Auffassung vom Körper als einem chemischen Laboratorium, in dem man Dispositionen und Stimmungen nach Belieben herstellen kann. Das Bewußtsein wird auf chemischem Weg präpariert, die jeweils benötigte „Seele“ in Tablettenform eingenommen.

Sehr bezeichnend ist es, daß in den USA die Mentaldrogen auch „mood manipulators“ — Stimmungsmanipulatoren — genannt werden: Der Mensch macht sich selbst vorausberechenbar und manipulierbar, sichert sich gegen Überraschungen und Unzulänglichkeiten aus seinem Inneren ab. Er will aber die Herrschaft über sich selbst nicht durch die Mühen der Selbstzucht, sondern bequemer mit Hilfe der Tablette erreichen. Der Preis für diese chemisch produzierte Normalität sind freilich physische und psychische Schäden, die sich auf längere Sicht meist als zu hoher Preis entpuppen.

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