Sehen und gesehen werden

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Jennifer Egan führt die Leser ihres jüngsten Romans "Look at Me" vor den Spiegel´und zeigt ihnen darin Auffälligkeiten der gegenwärtigen (nicht nur amerikanischen) Gesellschaft.

So viel gesehen bzw. nicht gesehen wie in diesem Roman wurde schon lange nicht mehr. Model Charlotte hatte einen mysteriösen Unfall, ihr Gesicht musste operiert werden und nun sieht sie nicht mehr aus wie früher. Die Berühmtheit ist dahin und mit ihr auch die Chance je wieder als Model zu arbeiten. In ihrer Not lässt sie ihr Leben im Internet nach- und neuerzählen und muss sich dafür auch wieder mit ihrer so gehassten Heimatstadt Rockford, Illinois auseinandersetzen. Spuren führen auch zu Z., jenem geheimnisvollen Mann aus ihrem früheren Leben, der offensichtlich auch etwas mit ihrem Unfall zu tun hatte und der diese Charlotte mit einer anderen Charlotte verbindet: die gleichnamige sechzehnjährige Tochter ihrer einstigen Freundin kreuzt den Weg von Z. (der inzwischen anders heißt) in Rockford und fängt ein Verhältnis mit ihm an.

Für alle Figuren des Romans ist das Sehen von großer Bedeutung: Model Charlotte wird nach den Schönheitsidealen ihrer Gesellschaft geformt und wandelt sich nach ihrer Operation in ein Model der anderen, neuen Art: nun wird ihr Leben durch das Internet modelliert. Sie wird so zur Repräsentantin einer Sucht auch "normaler" Personen nach Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. So wie künstlerisch verformt ist, was man täglich 24 Stunden lang angeblich authentisch am Bildschirm miterleben kann, so weiß auch der Leser am Ende nicht, was bei dem Unfall wirklich passiert ist, er erfährt es quasi aus zweiter Hand.

Der eingewanderte Mann im Untergrund (ein "Schläfer"?, ein Terrorist?, oder doch "nur" ein zukünftiger Filmemacher?), der eine amerikanische Verschwörung sieht, muss einerseits seine Identitäten wechseln um nicht erkannt zu werden, andererseits wäre für eine gelungene Aktion gegen Amerika eines das Allerwichtigste: beobachtet zu werden von möglichst vielen. Teenager Charlotte schließlich hat Geheimnisse vor der Mutter, diese wiederum als Ehefrau eine Affäre zu verheimlichen. Der Detektiv beobachtet Menschen von Berufs wegen.

Ein Roman übers Sehen muss auch die Vision thematisieren und daher gibt es den Visionär und Außenseiter Moose, der einst über die Geschichte der Erfindung des Glases und ihre Bedeutung für das Leben forschte und feststellte, dass dadurch zwar zunächst mehr Sicht, dann aber eine neue Blindheit entstand.

Den Schlüsselsatz "Wir sind, was wir sehen" könnte man ergänzen mit "Wir sehen, was wir sehen wollen". Denn nicht alles, so lehrt Egan, ist unbedingt eine Frage des Sehens, sondern des Glaubens. Keiner in dem Roman ist, was andere von ihm annehmen. Charlotte, das Ex-Model, versucht zwar jeweils das Schattenselbst des Gegenübers zu erkennen, jenes Ich, das jeder versucht zu verbergen und kaum jemand zu Gesicht bekommt - sie scheitert schließlich auch. Am ehesten - und das ist eigentlich eine Schwäche des spannend zu lesenden Romans - ist es der Leser, der die Figuren durchschauen kann.

Ein Roman über die amerikanische Gesellschaft - den Spiegelsaal, in dem Glanz und Glamour das Sagen haben. Bei moralischen Bedenken helfen immer noch der Satz "Wenn nicht ich, dann machen es andere" und der Gedanke an das liebe Geld. Die Menschen erkennen einander nicht, Individualitäten werden ausgelöscht - auch durch den Stil der Autorin. Sogar Z., früher Aziz, jetzt Michael West, muss resigniert feststellen, dass er der perfekte Amerikaner ist. Er macht nichts anderes als alle: er erfindet sich täglich neu. Er, der gegen das, was er als amerikanische Verschwörung erlebt, ankämpfen will, ist längst ein Teil von ihr geworden. Die Dinge wurden von Informationen abgelöst, Geschichtsbewusstsein von persönlicher Betroffenheit. Ein Spiegelbild der Sehnsucht von Menschen, die danach hungern, wahrgenommen, aber auch wirklich erkannt zu werden.

Es wäre zynisch festzustellen, dass Jennifer Egan die Veröffentlichung ihres Buches, an dem sie seit 1995 geschrieben hat, nicht besser hätte planen können: September 2001. In einer Zeit des größten Terroranschlags, den die Welt je erlebt hatte, kam ihr Buch heraus und konnte danach gar nicht mehr anders gelesen werden als auch als Vorausschau dessen, was dann kam. Egan hatte es einem Protagonisten in den Mund gelegt: Es wird mit einer Eruption von Gewalt enden.

Ist das die viel zitierte prophetische Gabe der Literatur? Man erinnert sich an die angesichts der Giftgasanschläge in Tokio unheimlich gewordene Lektüre des Romans "Opernball" von Josef Haslinger. Sie habe nur gründlich recherchiert, meint die Autorin.

Hat Moose Recht, der das Ende der Welt befürchtet - um dann doch einen Urlaub auf Hawaii anzustreben? Dem Roman mit dieser Spannung zwischen privaten Träumen und gesellschaftlichem Alptraum fehlt nichts, um nicht als amerikanischer Film auf den Markt zu kommen - und damit selbst ein Teil jener Wirklichkeit zu werden, die Egan beschreibt.

Look at me

Roman von Jennifer Egan, aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs, Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2002, 535 Seiten, geb., e 26,80

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