Software für verspielte Fußballnarren

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Leidenschaftlicher Masochismus, dazu neigen bei Fußball-Weltmeisterschaften auch jene, denen qualvolle Lust und libidinöse Qual sonst eher fremd sind. Wie sonst wäre zu erklären, dass eine leidvolle Frage zur Zeit eines Turniers so attraktiv ist, dass sie immer wieder lustvoll gestellt wird: "Was wäre wenn?" Dem passionierten Fan lässt diese Frage oft auch nach dem Schlusspfiff keine Ruhe mehr. Was wäre, wenn der Stürmer bei seiner großen Chance starke Nerven behalten hätte; wenn der Ball nur ein paar Zentimeter weiter links von der Stange ins Tor gesprungen wäre; oder wenn der Schiedsrichter das versteckte Foul doch geahndet hätte?

Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Manuel Stein. Der Informatiker von der Universität Konstanz hat eine Software entwickelt, die Fußballspiele quasi in Echtzeit analysiert -das heißt live und ohne Zeitverzögerung. Grafische Analysen sind aus Fußballübertragungen nicht mehr wegzudenken, doch bislang werden sie vom Fernsehteam während des Spiels unter Zeitdruck erstellt und typischerweise im Nachhinein als Rückblende eingespielt.

Forschung zu kollektivem Verhalten

Mit der neuen Software passiert dies automatisch: Bis zu 30 Mal pro Sekunde ermittelt der Computer die Position, Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung jedes Spielers sowie auch des Balls, allein mithilfe des Fernsehbilds. Auf Basis dieser Daten erfasst das Programm jeden Quadratmeter des Spielfelds. Das Ergebnis ist eine dynamische Karte der Einflusszonen jeder Mannschaft, die in Sekundenbruchteilen über das laufende Fernsehbild gelegt wird. Durch einfache Farbsignale zeigt die Software etwa, wie stark jeder Spieler von der gegnerischen Mannschaft bedroht ist, wo Freiräume sind, und wo sich sichere Pässe anbieten.

Mit einer "Was wäre wenn"-Analyse können außerdem die Schlüsselsituationen eines Spiels aufgerufen und in alternativen Szenarien neu abgespielt werden. Mit den Daten jedes Spielers berechnet der Computer dabei einen schlüssigen, realistischen Verlauf des Szenarios. Dieses Analyse-Tool wurde freilich nicht entwickelt, um leidgeplagte Fans noch zusätzlich zu quälen. Nicht auszuschließen, dass auch so mancher "Fußballnarr" zu Hause auf dem Sofa Interesse an dessen Funktionen hat. Die primäre Zielgruppe aber sind TV-Kommentatoren, Sportjournalisten sowie Fußballtrainer, für die das Computer-Programm zur Nachbesprechung eines Spiels hilfreich sein soll. "Jeder versucht, Daten im Fußball zu sammeln, aber kaum einer weiß, was er damit anfangen soll", sagt Manuel Stein. "Wir versuchen nun, Wissen daraus zu generieren." Um die Analysen noch präziser zu machen, sind die Konstanzer Informatiker nun an Kooperationen mit Mannschaften und Fernsehsendern interessiert, die Bild-und Positionsdaten von Fußballspielen erheben.

Die Arbeit des Informatikers erfolgt im Rahmen des jungen Forschungsfelds "Kollektivverhalten", das sich mit Einflüssen und Entscheidungen innerhalb einer Gruppe befasst -zum Beispiel in Tierschwärmen, ökonomischen Netzwerken oder bei der Koordination von selbstfahrenden Autos.

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