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Sozialer oder politischer Wohnbau?

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Die menschliche Wohlfahrt weist sich nicht nur in der Größe von Autoflügeln oder in der Zahl der Etiketten auf den Reisekoffern aus, sondern unter anderem auch im Wohnungskomfort. Wenn wir in vielen Konsumweisen bereits den Anschluß an den „Westen” gefunden haben, im Wohnungskomfort sicher noch nicht. Was Wohnungsgröße und Wohnungsqualität betrifft, haben wir französische Verhältnisse, gibt doch der Franzose nur drei Prozent seines Einkommens für die Wohnung aus, weniger als für den Aperitif, der eher geeignet scheint, den französischen Esprit zu fördern, als eine komfortable Wohnung.

Die überwiegende Zahl jener Oesterreicher, die heute überhaupt eine Wohnung oder eine bessere Wohnung benötigen und sie mit eigenen Mitteln nicht erbauen können, ist nicht in der Lage, einen kostendeckenden Mietzins zu zahlen. Wer Einkommensstatistiken lesen kann und zudem noch soziales Verständnis hat, kann heute nicht an eine Restauration der Mietzinsherrlichkeit der Zeit vor 1914 denken. Dabei soll nichts zur Verteidigung des Mietzins chaos von heute gesagt werden, zur Rechtfertigung der Tatsache, daß Wohnungen gleicher Qualität von Mieter zu Mieter verschiedene Preise haben und daß es zuweilen noch Mietzinse gibt, deren Höhe nur Symbolcharakter hat und die so viel ausmachen, daß zwei Karten für ein Premierenkino teurer zu stehen kommen.

Bei aller Anerkennung der Gültigkeit der ökonomischen Gesetze kommen wir aber über den Umstand nicht hinweg, ,daß auf eine kaum absehbare Zeit der Mietzins in Oesteweich die Bedeutung?eines politischen Rneisas: haben wird und nicht von den Kräften eines freien Marktes öder Von den Selbstkosten her bestimmt wird, sondern durch öffentliche Zuschüsse oder durch den Verzicht von Hausherren auf Refundierung ihrer Kosten subventioniert werden muß. Gäbe man, wie dies da und dort noch gefordert wird, die Mietzinsbildung durchweg und abrupt frei, wäre die Folge ein bedenklicher Strukturwandel der österreichischen Wirtschaft, ein erheblicher Anstieg der Mieten, ein Umbau des gesamten Preis- und Lohngefüges und ein Auseinanderfallen des mühsam zusammengefügten Sozialgefüges. Der Mieterschutz und die Preisbindung bei den meisten Mietzinsen sind eben ein wesentlicher Bestandteil unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung geworden, sie bedingen wahrscheinlich auch den Wert des Schillings und unsere Stellung auf den internationalen Märkten. Freilich hat dieser Tatbestand zur Folge, daß das Eigentum an den meisten Mietwohnungen ein gebrauchsrechtloses Eigentum geworden ist, oft nur noch ein bloßer Titel. Jedenfalls sollten wir nicht übersehen, daß ein Teil des Mittelstandes, der in Miete wohnt, lange Zeit seinen Komfort nur über die niedrigen Mietzinse aufrechterhalten konnte.

Die Gegner eines freien Wohnungsmarktes an sich meinen, die Wohnung sei. wie etwa die Straße, aus ihrer Natur heraus eine öffentliche Sache. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist die Ursünde des Marxismus und aufzuheben. Vor 1917 waren nun Miethäuser für ihre Eigentümer eine bedeutende, wenn nicht d i e Erwerbsquelle und hatten daher die Qualität von Produktionsmitteln. Gegen diese Ansicht spricht aber, daß eine Wohnung , nicht — wie eine Straße — einem Kollektivbedarf, sondern einem Individualbedarf entspricht und ihrer Eigenart gemäß ein höchstpersönliches Konsumgut ist. Privater Nutzung dienende Konsumgüter sollen aber nur dann im öffentlichen Eigentum sein, wenn es unvermeidbar ist und im öffentlichen Interesse liegt. Die Wohnung ist das einzige individuell nutzbare Konsumgut, das sich heute in unserem Land massenweise im Eigentum von Behörden befindet. An der Etatisierung des Wohnungswesens sind aber nicht die Sozialisten schuld, sondern jene, welche die Lebensbedingungen für das Entstehen des Sozialismus geschaffen haben.

Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem der quantitative Wohnungsbedarf in Oesterreich vor der Sättigung steht (1960 soll es so weit sein),

isr nun in Wien zwischen den beiden Regierungsparteien eine Grundsatzdiskussion über die Frage der künftigen Gestaltung des kommunalen Wohnungsbaues begonnen worden. Eigentlich unbeabsichtigt. Ging es doch zuvorderst um die Art der Sanierung der Wiener Städtischen Straßenbahnen.

Worum geht es’ in der Wohnungsdebatte 1957? Eigentlich zuerst um einen Begriff, um den Begriff „Sozialer Wohnungsbau”. Und noch mehr: Es geht auch um den Inhalt des Eigenschaftswortes „sozial”. Was wird heute nicht mit „sozial” gekennzeichnet? Die meisten Maßnahmen, die publikumswirksam sein sollen, werden im Interesse einer wohlmeinenden Aufnahme durch die geehrte „Masse” als „sozial” abgestempelt. Fast jede Einrichtung, die von einer Behörde geschaffen wurde, ist eine „soziale” Einrichtung. Erst vor einigen Monaten wurde bei einer Tagung mit beißendem Spott über die Bezeichnung einer Ansammlung von einigen Rasenziegeln als „Soziales Grün” hergezogen. Man könnte gleiches auch über die „Soziale Müllabfuhr” sagen. Was immer Ihre Hoheit, die Behörde, tut, ist nach Ansicht serviler Behördendiener gut und sozial, einfach deswegen, weil der „Herrscher” sozial sündenlos ist. Nun war aber der öffentliche Wohnungsbau tatsächlich nie eine ausschließlich als sozial gedachte Angelegenheit. Zuerst mußte nach dem ersten Weltkrieg das Wohnungsmanko geschlossen werden. Die Gesetzgebung in Mietensachen und die allgemeine Verarmung der einheimischen Bevölkerung führten, wie wir wissen, zum völligen Versiegen der privaten Bautätigkeit in Wien. Später wieder war es deji öffentlichen Bauherren aufgegeben, die Folgen der Kriegszerstörungen auf dem Sektor des Wohnungswesens beseitigen zu helfen, verlor doch Oesterreich durch Kriegseinwirkung an die 15.000 Wohnhäuser durch Totalzerstörung. Während vor 1914 wegen der zu hohen Mietzinse trotz Anbotsüberhang ein unsagbares Wohnungselend in Wien bestand, kam es nach 1917 und vor allem nach 1942’4.1 und 1945 zu einer Wohnungsmisere wegen des Wohnungsfehlbestandes. Beide Male mußte rasch und unter Zuhilfenahme öffentlicher Mittel gehandelt werden.

Der öffentliche Wohnbau war durch lange Jahre Gegenstand unleidlicher politischer Auseinandersetzungen. Heute aber geht es nicht mehr darum, daß von Seiten der Ge meinde gebaut wird. Worum es geht, das ist die unbestreitbare Tatsache, daß bei der Vergebung von Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln hergestellt wurden, nicht nur soziale, sondern auch politische Gesichtspunkte maßgebend sind. Die Zuweisung einer Wohnung, die aus Steuergeldern auch der kleinen Leute erbaut wurde, erfolgt oft — sehr oft — nicht nach der Bedürftigkeit des Wohnungswerbers, sondern weil er eine entsprechende parteipolitische Fürsprache hat. Die Zuteilung van Wohnungen an nicht bedürftige, politisch Privilegierte stellt nun eine neuzeit-

liehe F o r m der indirekten Ausbeutung dar, weil Wohnungen (als Wohlfahrtschancen) jenen, für die sie bestimmungsgemäß errichtet wurden, vorenthalten und Menschen gegeben werden, die wirtschaftlich besser gestellt sind als die Abgewiesenen. Dadurch aber wird amtlicherseits ein Wohlstandsgefälle geschaffen. Einerseits dadurch, daß Menschen überhaupt eine menschenwürdige Wohnung haben und andere nicht, und ander seits durch die unterschiedliche Mietzinshöhe. Wenn in Gemeindebauten ein Mietzins verlangt wird, der unter jenem Mietzins liegt, der sich bei freier Preisbildung ergeben hätte, so ist dies durchaus in Ordnung. Aber nur dann, wenn der billige Mietzins lediglich Bedürftigen zugestanden wird. Man sagt, daß aus öffentlichen Mitteln derzeit an die 500 Millionen Schilling pro Jahr für die Erhaltung öffentlicher Wohnhäuser zugeschossen werden müssen. Wenn diese Zuschüsse zum Teil aber an Nichtbedürftige gegeben werden, handelt es sich um Bestechungsgelder, bestimmt, Menschen politisch geneigt zu machen. Die Folge der sozialen Benachteiligung von ganzen Bevölkerungsschichten durch befangene Behörden hat zur Folge, daß einzelne Gruppen durch relativ billig abgegebene Nutzungsrechte Zuschläge zu ihrem Realeinkommen erhalten, die oft so hoch sind, daß sie sich gerade deswegen gewisse Luxusgüter kaufen können, deren Erwerb ihnen ohne die kommunale Mietzinsbei-

hilfe nicht möglich gewesen wäre. Etwa ein Auto. Auf diesen Umstand hat Nationalrat O 1 a h kürzlich mit einer erfrischenden Offenheit hingewiesen. Einkommensteile, die zum Beispiel bei Menschen, die nicht zur „herrschenden Klasse” gehören und daher „kostendeckende” Untermietzinse zahlen müssen, gebunden sind, haben bei einzelnen Mietern in Gemeindebauten den Charakter von „vagabundierenden” Einkommen und können zur Deckung jenes Bedarfes verwendet werden, welcher der Wahrung des sozialen Prestiges dient: Auto in Salongröße und Auslandsreisen bis an die Grenze jenes Landes, von dem man noch geographische Kenntnisse hat.

Das ganze Problem wird dadurch noch komplizierter, daß wir uns in Oesterreich an die niedrigen Mietzinse gewöhnt haben. Wurden 1914 noch 17,4 Prozent des durchschnittlichen Einkommens für die Wohnung ausgegeben, sind es derzeit nur etwa vier bis fünf Prozent. Die Mietzinse sind irgendwie erstarrt. Man kann von einer Mietzinsremanenz sprechen, von einem relativen Zurückbleiben der Mietzinse gegenüber der Entwicklung der anderen Ausgaben des Haushaltes. Aehnliches erfahren wir ja auch bei Milch und Brot. Der Wein dagegen, der von „Katastrophenjahr” zu „Katastrophenjahr” teurer wird (auch diesmal müssen wir eine preissteigernde „minimale” Ernte erwarten), kann unbehindert im Preis steigen. Beim Wein ist man bereit, die Preisbegradigungen nach oben mitzumachen. Nicht aber bei den Mieten. Ihre Erhöhung wäre „untragbar”

Was sollte nun unter anderem geschehen, wenn die beiden Großparteien an eine Regelung der Frage des kommunalen Wohnungsbaues denken?

Zuerst sollten die Wohnungen, die mit öffentlichen Mitteln erbaut werden, nur an jene vermietet werden, die sowohl einen objektiven Wohnungsbedarf nachweisen können wie außerstande sind, die Zahlung einer relativ hohen Miete zu übernehmen. Die Zuweisung einer Gemeindewohnung hat den Charakter der Hergabe eines Preisverbilligungsscheines. Jede ungerechtfertigte Zuweisung ist ein Amtsmißbrauch. Wie schnell ist man dabei, einen kleinen öffentlichen Angestellten wegen eines Bagatellvergehens auf die Straße zu setzen und ihn vor aller Welt zu diffamieren. In der Sache der Zuweisung von Wohnungen geht es aber um absolut große Beträge, wenn man die Preisverbilligungen kapitalisiert. Trotzdem wird der Amtsmißbrauch bei der Wohnungsvergebung zu einer verdienstlichen Sache.

Unter den Bedürftigen müßte man die Familien mit mehreren Kindern bevorzugen. Ja noch mehr: In allen Gemeindebauten sollten die für Kinderreiche vorbehaltenen Wohnungen in entsprechender Größe errichtet werden. Das wäre eine ansprechende Form der indirekten Kinderbeihilfe. (Neben der Autobeihilfe für die Protektionskinder.)

In den nächsten Jahren will man in Europa nicht weniger als 20 Millionen Wohnungen nur zur Deckung des qualitativen Wohnungsfehlbedarfes bauen. Auch in Oesterreich wird wahrscheinlich von den Gemeinden weitergebaut werden, auch dann, wenn der quantitative Bedarf gedeckt ist. Und auch dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung, die auf Wohnungssuche ist, nicht mehr bedürftig, aber noch nicht in der Lage ist, sich Eigenheime zu errichten. In einem gewissen Sinn haben wir eine ähnliche Situation schon erreicht. Es scheint daher an der Zeit — und beide Parteien sind offensichtlich dieser Meinung —, zu einer Mietzinsdifferenzierung zu schreiten. Wer zahlen kann, soll verhalten werden, auch in Gemeindebauten kostendeckende Mietzinse zu zahlen. Um so mehr Mittel werden dann den öffentlichen Bauherren zur Verfügung stehen und um so eher werden die menschenunwürdigen Wohnhöhlen verschwinden. Wenn etwa die Mietzinse in Gemeindebauten für die Nichtbedürftigen (im objektiven Sinn) auch Amortisationsquoten enthalten, sind die für die Erstellung öffentlicher Wohnbauten gewidmeten Budgetmittel nicht mehr durchweg verlorene Zuschüsse, sondern haben zum Teil Kreditcharakter.

Wenn die Gemeinden weiterbauen, sollten sie auch Beispielsbauten schaffen, so bauen, als ob wir uns schon im 20. Jahrhundert befänden und als ob es einen mechanisierten Haushalt gäbel Es gibt nämlich auch so etwas wie ein wohnkulturelles Existenzminimum, was Ausstattung und Größe betrifft. Vor dem ersten Weltkrieg waren 73 Prozent der Wiener Wohnungen Kleinwohnungen, in den Arbeiterbezirken sogar 90 Prozent. Nicht weniger als 12 Prozent der Wohnungen hatten nur ein Kabinett. Wer aber heute noch für das System der Kleinwohnung auch für Familien eintritt, verwechselt Kleinwohnung , und „entzückende” Junggesellenwohnung.

Jedenfalls sollte die Tatsache, daß man anscheinend gewillt ist, sich bei Gemeindebauten sowohl über die Art der Wohnungsvergebung wie auch über eine Mietzinsdifferenzierung Gedanken zu machen, auch Grund für eine beschleunigte Sanierung unserer Massenwohnviertel sein. Und daher der Anlaß für den Abbruch eines Großteiles unserer Althäuser, wobei wir nicht an die Reste Alt- Wiens denken, denen manche gerne mit der Spitzhacke zu Leibe rücken, sondern an die trostlosen Zinskasernen der siebziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. An die 83 Prozent der Großwohnbauten in Oesterreich sind älter als 40 Jahre, 25 Prozent sind sogar älter als 75 Jahre. Wir haben in Wien die romantischen Hinterhöfe, oft tief gestaffelt und ohne einen Rasenstreifen. Mußten doch früher nur 15 Prozent der Baufläche für das, was man mit der reizenden Bezeichnung „Lichthof” versehen hat, reserviert bleiben. Auch heute entstehen wiedfer Bauten ohne Hausgarten und wird an vielen Stellen der letzte Rasenziegel in einer

Straße mit einem Mauerziegel bedeckt, um nur ja keine Luftlücke bestehen zu lassen.

Wahrscheinlich wird die Wohnungsdiskussion mit einem Kompromiß enden. Mit einem Kompromiß von der Art, wie es uns eine in Europa einzig dastehende politische Stabilität beschert hat. Tatsächlich haben in der Wohnungssache beide Partner recht. Und wollen den „sozialen” Wohnungsbau. Die einen, indem, sie dafür sind, mehrheitlich nur Gebrauchsrecht an Wohnungen zu geben, und die anderen, indem sie dem Eigentumsinstinkt des Menschen auch an der Sache Wohnung Rechnung tragen und die Mietwohnung als eine ausnahmsweise Erscheinung bestehen lassen wollen. Ob nun das eine oder das andere System „mehr” oder „weniger” sozial ist, wird nicht von der Art der gewählten Etikette bestimmt,, sondern davon, ob jedem in unserem Land die Möglichkeit geboten ist, menschenwürdig (in der Auffassung unserer Zeit) zu wohnen. Darauf und nicht auf die schrecklichen Nur-Prinzipien kommt es an.

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