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Stimme des Praktikers

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In Nummer 8/1967 der „Furche“ hat Josef Toch über einen Gesetzesentwurf des Sozialiministeriums berichtet: über das seit vielen Jahren in Bearbeitung stehende und endlich fertiggestellte Tuberkuiosegesetz, das auch die Zwangsasyherunig von asozialen Tuberkulosekranken vorsieht. In diesem Artikel wurde nun der Befürchtung Ausdruck gegeben, daß eine nach dem Gesetz unter bestimmten Umständen vom Gericht auf sechs Monate ausgesprochene Zwanigsasylierunig nach dem Gutdünken der Behörden und des jeweiligen Richters laufend verlängert werden könnte, so daß mißliebige asoziale Tuberkulöse unter Umständen lebenslänglich in Sonderheilanstalten festgehalten werden könnten. Das aber sei „menschenrechtlich geradezu Dynamit“. Wie ist nun die Tuberkulosesituation in Österreich; warum brauchen wir jetzt ein Tuberkulosegesetz; weshalb wird überhaupt eine Zwangsasylierung für notwendig gehalten, und wie groß sind die Gefahren, die sich für kranke Menschen durch diese Zwangsbestimmung ergeben?

Auch heute werden noch mindestens 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung irgendeinmal im Leben mit Tuberkulose infiziert; zurückgegangen ist nur die Infektion im Kindesalter; sie erfolgt jetzt in späteren Lebensjahren, zum Großteil zwischen 20 und 35 Jahren. Von diesen Infizierten erkranken aber nur ein bis höchstens drei Prozent an einer Tuberkulose. Diese Tuberkulose kann man aber mit den modernen Heilmitteln so gut behandeln, daß 90 bis 95 Prozent aller frischen Fälle zur vollständigen Ausheilung kommen. Damit müßte es möglich sein, die Tuberkulose zumindest in den zivilisierten Ländern zu „eradicie-ren“, also langsam auszurotten. Dies aber nur dann, wenn es möglich ist, die Kranken mit diesen Mitteln auch wirklich zu behandeln.

Und damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt unserer Überlegungen: Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, daß die Mißerfolge der Behandlung im wesentlichen bei jenen Patienten auftraten, die nicht bereit waren, sich den Belastungen und Anforderungen, die die Behandlung mit sich bringt, zu unterziehen: lange Spitalsbehandlung, notwendiger Heilstättenaufenthalt, Disziplin im privaten Leben und bei der Medikamenteneinnahme. Während der „normale“ Tuberkulosekranke in dem zu erwartenden hohen Prozentsatz von seiner Krankheit geheilt wird, nimmt unter den ungeheilten Patienten die Anzahl der Kriminellen, Asozialen und Psychopathen, vor allem der Alkoholiker, immer mehr zu.

Diese anbehandelten und halbbehandelten Patienten hatten sich zwar in ihrer akuten Krankheitsphase helfen lassen, sie waren aber nicht bereit gewesen, die konsequente Behandtang bis zur endgültigen Ausheilung der Tuberkulose auf sich zu nehmen. Sie wurden symptomfrei, blieben aber Bazillen-ausscheider, und sie stellen damit die Hauptquelle neuer Infektionen dar. Sie sind doppelt gefährlich: nicht nur durch ihre Undisziplin, sondern vor allem auch deshalb, weil sich ihre Bazillen durch die begonnene Behandlung an die Medikamente gewöhnt haben, weil ihre Bazillen „resistent“ geworden sind gegen die sonst wirksamen Mittel. Und eine Ansteckung mit resistenten Bazillen bedeutet, daß auch der Neuinflzierte gegen diese Mittel resistent ist: eine zusätzliche Bedrohung der Umgebung und eine wesentliche Erschwerung der Behandlung der Neuinflzierten.

Diese Gruppe von uneinsichtigen Kranken hat nun in den letzten Jahren zugenommen; sie hat auch zugenommen durch die Möglichkeiten, die in einem Mißbrauch der sozialen Tendenz unseres Staates liegt, und hier fällt es dem Mediziner schwer, nicht bitter zu werden. Manche der offen Tuberkulösen sind langsam daraufgekommen, daß die Tuberkulose ein Geschäft sein kann: mit einer offenen Tuberkulose kann man bei den Behörden alles mögliche erreichen; man muß zumindest eine regelmäßige finanzielle Unterstützung bekommen.

Man möge nicht Ziffern verlangen aber die Anzahl dieser „asozialen“ bazillenausscheidenden Tuberkulosekranken, die — wie erwähnt — zum Großteil chronische Alkoholiker sind; sie ist nach den vorliegenden Unterlagen erschreckend hoch. Wer dies bezweifelt, möge bei jeder Tuberkulosefürsorgestelle, bei jedem Gesundheitsamt, bei jeder Heilstätte, bei allen Ärzten, die mit der Tuberkulosebekämpfung praktisch zu tun haben, nachfragen: für unsere Überlegungen ist es entscheidend, daß es diese Art von Krankheiten, diese Möglichkeit des Mißbrauches des modernen Sozialstaates überhaupt gibt. Und aus diesem Grund wurde in das neue Tuiberkulosegesetz die Möglichkeit einer Zwangsasylierung solcher asozialer Tuberkulosekranker eingebaut. Mußte eingebaut werden, weil das Gesetz seinen Sinn nicht erfüllen könnte, wenn es nicht versuchen würde, die Quelle neuer In-fektionsmäglichkeiten zu verstopfen, und dies ist bei der heutigen Situation weder mit dem bestehenden Epidemiegesetz noch durch das Strafgesetz noch auch durch das Gesetz zur Anhaltung von geistesgestörten Kranken (beim tuberkulösen Psychopathen) in wünschenswertem Ausmaß möglich.

In den jahrelangen Beratungen über das Tuberkulosegesetz, das unter wesentlicher Mitarbeit der österreichischen Gesellschaft für Tuberkulose und Lungenkrankhei-ten vorbereitet wurde, war demnach die Frage der Notwendigkeit der Zwangsasylierung nie umstritten: der jetzt vorliegende Vorschlag über die Durchführung der Zwangsasylierunig versucht, die medizinischen Notwendigkeiten zu vertreten, versucht aber gleichzeitig, jeden möglichen Mißbrauch (den Josef Toch in seiner Warnung befürchtet) auszuschalten.

In Paragraph 13 des Entwurfes wird festgelegt, daß ein ansteckender Tuberkulosekranker, wenn er das ihm aufgetragene Verhalten nicht befolgt, von der Bezirksverwaltungsbehörde vorzuladen und zu belehren ist, daß er im Falle der Weigerung, die ihm obliegenden Verpflichtungen zu erfüllen, auch gegen seinen Willen in eine Sonderheilanstalt eingewiesen werden kann. Über diese Belehrung ist eine Niederschrift mit Durchschrift für den Kranken anzufertigen.

Paragraph 14: Wenn sich der Kranke auch nach der Belehrung entgegen den ihm obliegenden Verpflichtungen so verhält, daß dadurch eine Gefahr für die Gesundheit anderer Menschen entsteht, so ist ein Antrag an das Bezirksgericht auf Feststellung der Zulässigkeit einer Behandlung in einer Sonderheilan-stalt zu stellen.

Paragraph 15: Das Gericht hat nach persönlicher Anhörung des Patienten zu entscheiden, ob er in eine Sonderheilansitalt für höchstens sechs Monate eingewiesen werden kann.

Paragraph 16: Von der Einweisung ist abzusehen, wenn und solange sich der Anzuhaltende nach Zustellung des Gerichtsbeschlusses entsprechend den ihm Obliegenden Verpflichtungen verhält.

Paragraph 17: Die Anhaltung ist vorzeitig zu beenden, wenn aus dem Verhallten des Kranken geschlossen werden kann, daß er der Behandlung nachkommen und das ihm auferlegte Verhalten befolgen wird.

Paragraph 18: Wenn aus dem Verhalten des Kranken geschlossen werden kann, daß die Gründe, die zu seiner Anhaltung geführt haben, weiterbestehen, so kann eine Verlängerung der Anhaltung beantragt werden; das Gericht kann die Verlängerung der Anhaltung für höchstens sechs Monate für zulässig erklären.

Paragraph 19: Die Bezirksverwaltungsbehörde hat die Anhaltung für die Dauer eines freiwilligen Aufenthaltes des Angehaltenen in einer Krankenanstalt auszusetzen.

Paragraph 21 definiert die Sonderanstalten: diese müssen den modernen medizinischen Erfordernissen zur Behandlung der Tuberkulose entsprechen und unter der ärztlichen Leitung eines Facharztes für Erkrankungen der Lulige stehen.

Das Gesetz sieht also vor, daß ein uneinsichitiger „asozialer“ Kranker mit einer offenen Lungentuberkulose zuerst vorgeladen, gewarnt und belehrt wird. Wenn er weiterhin nicht bereit ist, sich den Behandlungsvorschriften (die nicht notwendigerweise in einer Spitalsbehandlung bestehen müssen) zu unterziehen, so kann er über richterlichen Beschluß in eine Sonderheilanstalt eingewiesen werden. Wenn er sich nach dem Gerichtsurteil entsprechend verhält, so ist von der Einweisung abzusehen. Wenn er einmal in der Sonderheil-anstalt ist, so kann dieser Aufenthalt jederzeit beendet werden, wenn der Kranke bereit ist, sich in einem normalen Krankenhaus behandeln zu lassen.

Wie anders, wie schonender, wie menschlicher, wie menschenrecht-licher hätte die Anhaltungsbestimmung formuliert werden sollen? Etwa dadurch, daß man die Zeit der möglichen Anhaltung im Gesetz auf sechs oder zwölf Monate fixiert hätte? — Dann wären gerade die Uneinsichtigsten unter den Asozialen nach dieser Frist mit keiner gesetzlichen Maßnahme mehr unter Kontrolle zu bringen.

Die Praktiker der Tulberkulose-behandlung befürchten, daß durch die komplizierte Form der Möglichkeit zur Einweisung eines uneinsichtigen Tuberkulösen in eine Sonderheilanstalt mit Vorladung, Warnung, Gerichtsbeschluß, Aussetzen der Einweisung durch einen neuerlichen Be-handlungsversuch usw., die Zwangsasylierung dieser Patientengruppe nie Wirklichkeit werden wird. Die Idealisten hoffen auf eine abschrek-kende Wirkung, daß die Drohung und die Möglichkeit des Zwanges allein schon genügt, den Kranken entweder zu einer Behandlung oder wenigstens zu einem vernünftigen Verhalten zu bringen.

Welch besseren Vorschlag hätten jene zu machen, die wegen der Menschenrechte des nichteinsichtigen Kranken die natürlichen Rechte der anderen Staatsbürger vergessen, die ihre eigene Gesundheit und die Gesundheit ihrer Kinder vor der Gefährdung durch den offen tuberkulösen Kriminellen, Psychopathen und Asozialen geschützt wissen wollen?

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