6573885-1950_33_10.jpg
Digital In Arbeit

Streit um die Stratosphäre

Werbung
Werbung
Werbung

Im Jahre 1901 nahm der deutsche Meteorologe R. A ß m a n n mit einem unbemannten Gummiballon Temperaturmessungen in höheren Luftschichten vor, die eine Umwälzung in unserem damaligen Wissen von der Temperaturverteilung in der Atmosphäre bewirkten. Nahezu gleichzeitig hat auch T e i s s e-rence de Bort nachgewiesen, daß in mittleren Breiten oberhalb 11 ku die Temperatur, die in dieser Höhe ungefähr minus 50 Grad beträgt, nicht weiter abnimmt, sondern daß hier eine isotherme Schicht liegt, in welcher die Temperatur sogar wieder etwas ansteigt. Die Entdeckung beider Forscher führte zu der Erkenntnis, daß man zwei Zonen in der Atmosphäre unterscheiden müsse, nämlich eine in gemäßigten Breiten bis rund 12 km hochreichende Zone der Wolkenbildung und des Wetters, die Troposphäre, und darüber die Stratosphäre, eine stabile Luftschicht mit fast ausschließlich horizontaler Luftbewegung. Die obere Grenze der Troposphäre heißt Tropo-pause und ist meist eine bis zu mehreren 100 m dicke Grenzschicht, in welcher die Temperatur mit der Höhe zwar noch abnimmt, aber um viel geringere Beträge als in der Troposphäre.

Höhe und Temperatur der Stratosphäre stehen im umgekehrten Verhältnis zueinander) je höher die Troposphäre, desto niedriger ist die Temperatur in der Stratosphäre. Letztere ist also am kältesten über den Tropen, und dort ist auch die Lage der Tropopause am höchsten. Die tiefste bisher registrierte Temperatur in der Atmosphäre ist minus 90 Grad, welche sowohl über Batavia (auf Java) in 15 km Höhe als auch über Agra (Indien) in 16 km Höhe erreicht wurde. Uber Mitteleuropa sinkt die Temperatur an der Stratosphärengrenze im Winter bis minus 72 Grad, über Nordskandinavien bis minus 78 Grad in 12 bis 13 km Höhe.

Das absolute Maximum der unteren Stratosphärengrenze liegt für Mitteleuropa ungefähr bei 15 km, für Agra bei 17 km und für Batavia bei 19 km. Gegen die Pole sinkt die untere Stratosphärengrenze bis 9 km herab, wobei Temperaturen von rund minus 45 Grad in dieser Höhe festgestellt wurden. Während also die Troposphäre in den Tropen wärmer ist als in höheren Breiten, zeigt sich in der Stratosphäre in sehr ausgeprägter Weise eine merkwürdige und zunächst paradox anmutende Temperaturverteilung. Sie äußert sich in der Umkehr des meridionalen Temperaturgefälles in der Stratosphäre, das heißt über den Polen ist es in der Stratosphäre wärmer als über den Tropen. Diese Erscheinung, die mit einem Absinken der Stratosphären-genze von etwa 17 km in den Tropen auf zirka 9 km im Polargebiet verbunden ist, wird als weltweites Gegen-läufigkeitsgesetz der Atmosphäre bezeichnet.

Untersuchungen der letzten zwanzig Jahre haben ergeben, daß die Stratosphäre in hervorragender Weise auch an der Bildung von Hoch- und Tiefdruckgebieten mitbeteiligt ist, wobei ebenfalls das „Gegenläufigkeitsgesetz“ streng eingehalten wird. Bekanntlich ist die nächstliegende Erklärung für das Zustandekommen höheren oder tieferen Luftdruckes die Ansammlung einer besonders kalten und dichten beziehungsweise einer besonders warmen Luftmasse. Die großen winterlichen Hochdruckgebiete über den Kontinentalmassen Nordasiens und Nordamerikas, ferner die Kaltlufthochs, die sich über Skandinavien, Grönland, der Antarktis und auch über Kleinasien ausbilden, entsprechend den dort auftretenden „Hitzetiefs“ im Sommer, sind ein Beweis dafür, daß diese Auffassung etwas für sich haben muß. Der Luftdruck weist im Zentrum dieser kontinentalen Hochdruckgebiete im Winter oft Werte von mehr als 1050 mb auf. In Sibirien wurde schon oftmals ein Barometerstand von nahezu 1070mb beobachtet und im kalten Winter 1939/40 kamen ähnliche Werte über Grönland vor. Von diesen Kaltluftspeichern aus nehmen die großen Kältewellen in den gemäßigten. Zonen ihren Ursprung, die in strengen Wintern dann auch Mitteleuropa überfluten. Bearbeitungen über die Natur der Hoch- und Tiefdruckgebiete haben ergeben, daß die stationären und hochreichenden Gebiete hohen Luftdruckes, die in den gemäßigten Breiten als Aktionszentren der Atmosphäre zu jeder Jahreszeit auftreten können und oft auch als „dynamische“ Hochdruckgebiete bezeichnet werden, den entgegengesetzten. Aufbau wie diese winterlichen Kältehochs haben. Sie sind bis 9 oder 10 km hinauf ausgesprochene Warmluftkörper, und erst in der hohen Troposphäre und in der Stratosphäre ist Kaltluft vorhanden, die wie ein schwerer Stempel auf den unteren Warmluftpaketen lagert. Die stationären und hochreichenden Tiefdruckgebiete sind dagegen in den unteren Schichten der Atmosphäre „Kaltluftdome“, über denen stratosphärische Warmluft nachgewiesen v/erden kann. In den stationären und hochreichenden Hoch- und Tiefdruckgebieten ist also ebenfalls jenes eigentümliche Gegenläufigkeitsgesetz erfüllt, das verlangt, daß stratosphärische Warmluftmassen über einer kalten Troposphäre liegen und umgekehrt. Man kann also auch behaupten, daß der hohe Luftdruck im dynamischen Hochdruckbereich stratosphärisch begründet ist, ebenso wie im dynamischen Tiefdruckgebiet der tiefe. Diese „statische Auffassung“ über den Aufbau der Hoch-und Tiefdruckgebiete wurde auch durch F. M. Einer gestützt, als er den rechnerischen Beweis dafür erbrachte, daß die innerhalb der untersten 20 km auftretenden gegenläufigen Temperaturanordnungen quantitativ durchaus ausreichend sind, die am Boden beobachteten Druckunterschiede „rein , thermisch“ zu erklären. Aus diesem Grunde hat er sich gegen den von J. Hann geprägten Ausdruck „dynamisches Hoch“ gewandt, den er eher verwirrend als aufklärend nennt.

Durch einen besonders schönen Fall hat H. Thomas die statische Anschauung über die Wirkungsweise der Stratosphäre, deren Hauptvertreter H v. Fickei ist, weiter untermauert. Er untersuchte den Aufbau eines Hochdruckgebietes, das sich vom 13. bis 17. Jänner 1930 ohne Mitwirkung troposphärischer Vorgänge über Mitteleuropa entwickelt hat. Der in dieser Zeit erfolgte außerordentlich starke Druckanstieg von insgesamt 35 mm wurde in sämtlichen Wetterkartentexten fälschlich auf den Einbruch maritimer HolarluJt zurückgeführt. In Wahrheit trat aber in der Troposphäre Erwärmung ein, so daß die Ursache des starken Druckanstieges in der Stratosphäre gesucht werden mußte. Und tatsächlich wurde das große, fast den ganzen europäischen Kontinent bedeckende Hochdruckgebiet, wie Inoraas nachgewiesen hat, durch mächtige stratosphärische Kälteeinbrüche verursacht. Bei der Untersuchung dieses außerordentlich interessanten Falles kam Thomas der glückliche Umstand zustatten, daß der Luftdruck in 15 km Höhe — trotz des gewaltigen Druckanstieges am Erdboden — konstant blieb, was die Rechnungen wesentlich vereinfachte. Thomas konnte rechnerisch nachweisen, daß sich die gesamte Änderung des Bodendrucks vom 13. bis 17. Jänner durch den stratosphärischen Kälteeinbruch erklären ließ und daß die Erwärmung der Troposphäre auf adiabatische Kompression durch die darüber lastenden Kaltluftmassen zurückzuführen war. Allerdings machte der Druckzuwachs auf Grund der Dichtedifferenz zwischen der wärmeren und kälteren Luft nur 10,5 mm aus. Die Luftdruckerhöhung betrug aber 35 mm. Die fehlenden 25,5 mm erklärte Thomas als direkte Massenvermehrung durch die Verlängerung der stratosphärischen Luftsäule, wobei er sich über den Mechanismus stratosphärisch bedingter Druckänderungen folgende Vorstellungen machte: Setzt sich eine stratosphärische Kaltluftmasse in Bewegung, ohne daß in der Troposphäre etwas vor sich geht, so wird die kalte und schwere Luft die tieferen Luftschichten komprimieren und gleichsam in sie einsinken. Dadurch muß aber oberhalb der stratosphärischen Kaltluft eine Einbuchtung der Atmosphäre eintreten. Diese Einbuchtung wird sich aber durch kompensatorische Strömungen wieder rasch ausgleichen, wodurch ein direkter Massenz uwachs in der stratosphärischen Luftsäule eintritt. Dieser Vorgang ist es hauptsächlich, der so gewaltige Druckeffekte am Erdboden hervorbringt und der überhaupt die großen stratosphärisch bedingten Druckänderungen verständlich macht. Entsprechend muß bei stratosphärischen Wärmeeinbrüchen ein direkter Massenverlust in der oberen Luftsäule eintreten und den durch die Dichtedifferenz bewirkten Druckfall am Erdboden noch vermehren.

Gegen diese statische Erklärung der stationären Hoch- und Tiefdruckgebiete wurden von verschiedenen Forschern Einwände erhoben. Es kommt nämlich vor, daß sich ein stationäres Hochdruckgebiet außerordentlich rasch, oft in wenigen Stunden, bilden kann. Dann ist allerdings die Annahme einer rein stratosphärischen Massenkonzentration sehr wenig wahrscheinlich. Die Massenzufuhr findet in diesem Fall zweifellos nicht allein in der Stratosphäre statt, sondern auch in der Troposphäre, und nicht nur von oben her, sondern überwiegend horizontal von einer oder vielen Seiten her gleichzeitig. Man muß dann annehmen, daß in der Troposphäre, etwa zwischen 5 und 10km Höhe, eine Massenkonvergenz stattfindet, das heißt, daß in einem bestimmten Raum der Atmosphäre die Luftzufuhr größer als der Luftabfluß ist. Dann steigt der Luftdruck unterhalb des konvergenten Raumes in allen Höhen an. Außerdem wird Luft nach unten absinken und ähnliche Veränderungen des Temperaturfeldes, Erwärmung und Schrumpfung, hervorbringen, wie sie Thomas bei seinem Fall gefunden hat. Aber auch nach oben hin wird die Wirkung der Konvergenz im „Stau“-Raume die Luft hinaufpressen. Hebung der oberen Schichten, stratosphärische Abkühlung und ein Anwachsen der Troposphäre sind die Folgen. Das heißt nichts anderes, als daß auch diese „dynamische

Auffassung“ eines Hochdruckgebietes alle beobachteten Erscheinungen zur Zufriedenheit erklärt. Bei einem so entstehenden Hoch könnte man mit Recht von einem „dynamischen Hochdruckgebiet“ sprechen, vor allem dann, wenn die beschriebenen dynamischen Vorgänge während der ganzen Lebensdauer des Hochs anhalten.

Die dynamische Auffassung weist also der Stratosphäre eine passive Rolle zu, im Einklang mit der norwegischen Schule, die alle Vorgänge in der Stratosphäre als nur sekundäre Erscheinungen, gewissermaßen als Reflexe der troposphärischen Vorgänge deuten möchte. Auch die neuesten Methoden der Amerikaner unter der Führung von R o s b y und N a m i a s 1 setzen sich über stratosphärische Einwirkungen fast gänzlich hinweg. Sie betrachten lediglich das zirkumpolare Strömungsband auf der nördlichen Halbkugel in 3000 oder 5000 m Höhe und versuchen alle Vorgänge durch ausschließlich ärodynamische Überlegungen, für die sie die Gleichungen der Hydrodynamik benutzen, zu erklären.

Demgegenüber vertreten die Wiener Meteorologen unter Führung H. Fickers die Auffassung, daß die troposphärischen Vorgänge von den stratosphärischen reguliert oder zum mindesten mitbestimmt werden, in ähnlicher Weise, wie es Thomas gezeigt hat.

Der Streit um die Stratosphäre ist noch nicht entschieden. In den meteorologischen Fachzeitschriften der ganzen Welt werden die Erörterungen über dieses interessante Problem weitergeführt, und es ist zu erwarten, daß die Kenntnisse über den komplizierten Mechanismus der Atmosphäre sich durch den wissenschaftlichen Streitfall erheblich vertiefen werden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung