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Therapie einer Volksseuche

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Nach Schätzungen von Fächleuten bewegt sich die jährliche Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen in Oesterreich zwischen 200.000 und 300.000. Das ist eine verheerende Seuche. Ihre Auswirkung liegt vor allem in schwerster Schädigung der Moral und in dem erschreckenden Geburtenschwund. Daneben schreitet eine — statistisch nicht erfaßbare — unheilvolle Gesundheitsschädigung der Frauenwelt einher; denn es ist eine allgemein anerkannte Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft, daß jeder Schwangerschaftseingriff mit beträchtlichen Gefahren verbunden ist und daß sich selbst bei einem chirurgischen Gelingen unabsehbare Folgen für die Lebensfunktion der Frau einstellen können.

So zeichnet sich der Hintergrund ab, bei dem in der Sitzung des Finanz- und Budgetausschusses des Nationalrates vom 11. November 1953 (Beratungen zum Kapitel Justiz) die Sozialisten unter Widerspruch der anderen Koalitionspartei die Forderung stellten, die bisherigen strafbaren Tatbestände der Abtreibung der Leibesfrucht nach 144 ff. Strafgesetz, soweit sie nicht gewerbsmäßig begangen werden, ihrer Verbrechenseigenschaft zu entkleiden und in die Gruppe der Vergehen einzureihen. Begründet wird das im wesentlichen: die angedrohten Strafen entsprächen nicht den dermaligen Zeitverhältnissen, ihr abschreckender Wert sei verlorengegangen und schließlich seien sie auch unsozial, weil sich die „besitzende“ Frau schon dann, wenn sie nur kein Kind will, jederzeit eine medizinische Indikation bescheinigen lassen könne, während die „besitzlose“ Frau, wenn sie sich in ihrer Not gegen das Gesetz vergangen hat, bestraft wird. Der so motivierten Forderung der sozialistischen Abgeordneten schloß sich auch deren Zentralorgan in einem Leitartikel und ein Vortrag an, den ein sozialistischer Staatsanwalt eine Woche später in der sozialistischen Juristenvereinigung gehalten hat. In beiden Fällen wurden keine neuen Gründe vorgebracht.

Forderung und Begründung halten einer sachlichen Prüfung nicht stand.

Zunächst kann das Versagen eines Gesetzes, das zum Schutze lebenswichtiger öffentlicher Interessen Handlungen unter Strafe stellt, grundsätzlich nicht eine Milderung der Strafsanktion rechtfertigen. Das wäre auch eine Kapitulation des Gesetzgebers vor dem Verbrechertum, außerdem würde das Gesetz seinen etwa herabgeminderten abschreckenden Wert überhaupt einbüßen und so zum Gegenteil des angestrebten Erfolges führen. Eine mildere Regelung, von der die gewerbsmäßigen Abtreibungen ausgeschlossen bliewürde sich ja nur dahin auswirken, daß im selben Verhältnis die Hemmungen Schwangerer gegen Unterbrechungen schwinden, dafür aber im umgekehrten Verhältnis die Risikoprämie der skrupellosen und geschäftssüchtigen Abtreiber hinaufschnellt. Man käme also nur vom Regen in die Traufe!

Im übrigen weiß jeder Praktiker, daß bei den Fällen, in denen eine Milderung eintreten sollte — im allgemeinen Strafsatz bis zu fünf Jahren — der Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen (im wesentlichen: geringere Strafe, Entfall von Ehrenfolgen, günstigere Verjährungsbestimmungen) ohne praktische Bedeutung ist. Denn bei nicht gewerbsmäßigen Verstößen handelt es sich in der Regel um erstmalige Straffälligkeiten, die nach der Spruchpraxis der Gerichte unter Ausnützung aller vom Gesetz gebotenen Möglichkeiten (außerordentliches Milderungsrecht, Anwendung des Gesetzes über die bedingte Verurteilung einschließlich der Aufschiebung aller Rechtsfolgen'! erfahrungsgemäß zu keiner strengeren Bestrafung führen, als es bei einem Vergehen mit geringerer Strafandrohung der Fall wäre. Eine solche Aenderung des Gesetzes hätte daher nur eine optische Bedeutung.

Was die oft bemühten „Zeitverhältnisse“ anlangt, so sollen sie gewiß nicht außer acht gelassen werden; sie können aber nicht getrennt von der Rechtslage betrachtet werden.

Bis zum Jahre 1937 war die medizinische Indikation von der Rechtsprechung der Strafgerichte unter Berufung auf 2 lit. g Strafgesetz „durch unwiderstehlichen Zwang oder in Ausübung gerechter Notwehr“ als Strafausschließungsgrund anerkannt, allerdings im wesentlichen bloß für den Fall, daß die Gefahr für das Leben der Mutter unmittelbar droht, nicht aber schon bei der Möglichkeit des Eintrittes einer lebensbedrohenden (künftigen) Gefahr (Entsch. des Obersten Gerichtshofes vom 17. März 1922, SSt. 11/29). Die Strafgesetznovelle 1937 BGBl. 1937 Nr. 202 hat die medizinische Indikation in das Strafgesetz eingebaut. Darnach ist eine Schwangerschaftsunterbrechung — nicht befohlen, sondern nur — zugelassen, wenn sie vorgenommen wird, um von einer Schwangeren eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Lebensgefahr oder eine Gefahr dauernden schweren Schadens an der Gesundheit abzuwenden, wie aus 357 a, 499 b Strafgesetz zu entnehmen ist*.

* Diese Regelung verstößt gegen die Moralgesetze des Katholiken, das bekanntlich jede direkte Schwanger-haftsuntirbicchung verbietet. Wenngleich mangels eines Gesetzesbefehles sich ein Konflikt bei der Schwangeren und dem Abtreibenden nicht ergeben kann, so ist das noch bei dem in einem Abhängigkeitsverhältnis stehenden Gehilfen eines Abtreibenden (Krankenschwester. Assistent usw.) gegeben. Anmerkung der Schriftleitung!

Die Lösung hatte den Zweck, gegen die schon seit dem Ende des ersten Weltkrieges um sich greifenden Abtreibungen einzuschreiten, die unter dem Deckmantel der als straflos behandelten medizinischen Indikation vorgenommen worden sind (Erläuternde Bemerkungen 157/Ge Stenogr. Protokoll S 525) Sie diente ferner der Beruhigung der Aerzte, die das bis dahin bestandene Schweigen des Gesetzes deshalb als mißlich empfanden, weil sie fürchteten, daß Auslegung und Rechtsprechung auch wieder andere Wege einschlagen könnten. Vor allem sollte aber — und das ist die wichtigste ratio der Strafgesetznovelle 1937! — die Grundlage für die unerläßlichen verwaltungsrechtlichen Maßnahmen gegen die schon damals als Seuche bezeichneten Abtreibungen geschaffen werden (Rittler in: Juristische Blätter 1938 S. 1).

Solche Verwaltungsmaßnahmen hat der damalige Gesetzgeber auch getroffen, und zwar im Gesetz zum Schutz des keimenden Lebens BGBl. 1937 Nr. 203, das gleichzeitig mit der Strafgesetznovelle beschlossen und kundgemacht wurde. Das geschah mit betonter Absicht, weil man die Wirkungen des geänderten Strafgesetzes — Bekämpfung der Abtreibungen! — nur durch die Verwaltungs-besümmungen des Gesetzes zum Schutz des keimenden Lebens verbürgt sah (erläuternde Bemerkungen wie oben). Die für — grundsätzlich dem Arzt vorbehaltene — Schwangerschaftseingriffe bestimmten formalen Voraussetzungen waren im wesentlichen: Einleitung eines Verfahrens vor einer mit Fachärzten besetzten staatlichen Prüfungsstelle, die Feststellung dieser Instanz, daß alle Möglichkeiten gesundheitlicher Maßnahmen zur Rettung von Mutter und Kind erschöpft sind, Vornahme des Eingriffes in einer Krankenanstalt, Anzeige an die Prüfungsstelle.

Diese Verwaltungsvorschriften wurden im Jahre 1939 durch die Bestimmungen der rassenhygienischen Gesetze des Nationalsozialismus abgelöst (Einführungsverordnung v. 14. April 1939 GBlOe. Nr. 1438/1939). Sie wurden aber bis heute nicht mehr wieder in Kraft gesetzt oder durch andere ersetzt, insbesondere auch nicht, als die nationalsozialistischen rassenhygienischen Gesetze außer Kraft traten (Kundmachung vom 29. Mai 1945, StGBl. Nr. 17).

Damit ist aber der ganze Zv eck der Strafgesetznove11e 1937 vereitelt, weil ihr untrennbarer und wichtigster Teil zur Bekämpfung rechtswidriger Abtreibungen weggefallen ist. Verblieben ist lediglich, daß die Aerzte durch die unveränderte Zulässigkeit der medizinischen Indikation weiterhin „beruhigt“ sein konnten und für Abtreibungen bloß in ihrem Gewissen beschränkt jind. Gewissenlosen Aerzten ist daher fast ein Freibrief für jede gesetzwidrige Abtreibung ausgestellt! Bei dem bestehenden Gesetzestorso ist jedenfalls seit 1945 dem Mißbrauch der medizinischen Indikation Tür und Tor geöffnet. Die Gesetzeslücke deckt geradezu den himmelschreienden Uebelstand, wie er eingangs nüchtern festgestellt wurde und weiterzu-wüten droht. Und da sollten die „Zeitverhältnisse“ noch eine weitere Unterhöhlung der Strafbestimmungen begründen können?

Wenn sich die üble Begleiterscheinung zeigt, daß „besitzende“ Schwangere im Gegensatz zu den „besitzlosen“ vielfach eine Strafverfolgung vermeiden können, so ist das zweifellos verwerflich. Dem Gesetzgeber kann aber nicht zugemutet werden, daß er die „besitzlosen“ Schwangeren sozusagen dafür entschädigt, daß nicht auch sie der Verfolgung entrinnen konnten. Wenn sie ihre Abtreibung etwa aus drückender Notlage begangen haben, so wird dies ohnehin als ein den Umständen entsprechend zu würdigender Milderungsgrund berücksichtigt. Eine Milderung würde schließlich die als unsozial empfundene Begleiterscheinung auch gar nicht ändern und im übrigen dazu führen, daß die „besitzenden“ Schwangeren für ihr bestimmt schwerer ins Gewicht fallendes Delikt durch eine auch auf sie anzuwendende Milderung noch belohnt würden.

Als Frucht des negativen Ergebnisses der sozialistischen Reformpläne bricht d i e positive Lösung der brennenden Frage durch. Sie ergibt sich von selbst, wenn man aus den dargelegten Tatsachen die nach den Denkgesetzen richtigen Schlußfolgerungen zieht.

Die medizinische Indikation wurde vom Gesetzgeber nur unter der Voraussetzung zugelassen, daß ihre Rechtfertigung im konkreten Fall von einer staatlichen Prüfungsstelle festgestellt werde, bei der Gefälligkeitsakte so gut wie ausgeschlossen sind. Die dafür erlassenen Verwaltungsvorschriften fehlen seit vielen Jahren, was zu dem ungeheuren Umfang der Abtreibungsseuche geführt hat.

Lange Zeit haben Gesetzgebung und Verwaltung dieser Entwicklung untätig zugesehen. Wollen sie beide noch weiter vor der Seuche Distanz halten, als wären das Krankheitsgift und dessen Verbreiter weder bekannt noch zu fassen?

Unabweislich ist die Forderung, Schwangerschaftsunterbrechungen solchen Verwaltungsbestimmungen zu unterwerfen, die einen Mißbrauch der medizinischen Indikation ausschließen. Der Erfolg ist unausbleiblich.

Und bis es so weit ist, wird sich die Verwaltung, ohne sich Zeit gönnen zu dürfen, der Verantwortung bewußt werden müssen, schon jetzt alle Möglichkeiten im Rahmen der bestehenden Vorschriften auszuschöpfen, um der Seuche an den Leib zu rücken. E s gibt solche wirksame Mittel! So wird es schon Wunder wirken, wenn bloß die in Betracht kommenden Organe und Körperschaften, wie Aerztekammern, Krankenanstalten, Gesundheitsämter, Sicherheitsbehörden usw., daran erinnert werden, daß sie pflichtgemäß aufklärend einzuwirken sowie gegebenenfalls jeden Verdacht mit der vom Gesetz gebotenen Gewissenhaftigkeit klarzustellen haben, und daß sie ihr Einschreiten nicht nur auf jene Fälle zu beschränken haben, in denen ihnen eine Anzeige mit allen Beweisen unterbreitet oder ein Todesfall gemeldet wird. Wenn man z. B.im Sicherheitswesen für bloß wirtschaftliche Delikte eigene Einrichtungen und Büros geschaffen hat, warum sollte das für Verbrecher gegen das keimende Leben nicht möglich sein? Ganze Abtreibungsnester und -querverbindungen könnten auf diese Art bloßgelegt werden.

Die Not ist groß, es geht um Tausende und aber Tausende von Menschenleben. Es ist keine Zeit zu verlieren!

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