Digitale Erinnerung - © Rainer Messerklinger

Thomas Aigner: „Da kriege ich eine Gänsehaut“

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Die Digitalisierung verändert unsere Erinnerungskultur: Historiker Thomas Aigner über Archivschätze im Internet und die virtuelle Rekonstruktion der Vergangenheit.

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Die Digitalisierung verändert unsere Erinnerungskultur: Historiker Thomas Aigner über Archivschätze im Internet und die virtuelle Rekonstruktion der Vergangenheit.

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Thomas Aigner leitet das St. Pöltner Diözesanarchiv und verfolgt seit Langem eine Vision: historische Quellen über das Internet frei zugänglich zu machen. Als Gründer von ICARUS und der „Time Machine Organisation“ etablierte er Datenbanken wie „Matricula“ und „Monasterium“. Der 48-jährige Niederösterreicher bemüht sich um den Brückenschlag zwischen Regionalgeschichte, universitärer Forschung und internationaler Archiv-Vernetzung. So entwickelt die EU-finanzierte „Time Machine“ neue Technologien für historische Information, was die digitale Transformation in Europa vorantreiben soll. Im November wurde Aigner mit der Medaille für Verdienste um das niederösterreichische Archivwesen ausgezeichnet.

DIE FURCHE: Bei der Digitalisierung hinkt Österreich etwa den skandinavischen Ländern hinterher. Wo sehen Sie hierzulande den größten Aufholbedarf?
Thomas Aigner: In Skandinavien gibt es breiter aufgestellte Finanzierungsprogramme, die auch kleineren Institutionen viele Chancen bieten. In Österreich fehlt noch eine bundesweite Strategie. Bei der Digitalisierung des kulturellen Erbes aber sind wir auch im internationalen Vergleich auf einem guten Weg. So ist die Nationalbibliothek ein Vorreiter in der EU. Und wenn ich daran denke, dass die weltweit wichtigste Initiative zur automatisierten Handschriften-Erkennung von Innsbruck ausgeht, kriege ich fast schon die Gänsehaut!

DIE FURCHE: Als Pionier der Digitalisierung in Österreich haben Sie zu Beginn der 2000er Jahre damit angefangen, Kirchenbücher im Internet verfügbar zu machen. Gab es da eine Initialzündung?
Aigner: Ende der 1990er Jahre habe ich mir einen Scanner gekauft und kam auf die Idee, historische Texte und Editionen zu digitalisieren. Damit habe ich einige Experimente angestellt (lacht). Der befreundete Historiker Karl Brunner hat angeregt, diese mit Aufnahmen der originalen Urkunden zu kombinieren. Damit war das Portal „Monasterium“ geboren, auf das schon bald andere Bundesländer und Nachbarländer aufmerksam geworden sind. Unser Ziel lag zunächst bei 20.000 digitalisierten Urkunden nur aus Niederösterreich; heute sind es bereits an die 700.000 aus ganz Europa.

DIE FURCHE: Damals in den Aufbruchszeiten des Internet hatte man noch euphorische Vorstellungen, wie die neue Technologie die Welt verändern wird. Heute ist angesichts von „Fake News“ und gesellschaftlicher Polarisierungen große Ernüchterung eingekehrt. Ist die Idee der Demokratisierung zumindest im Archivwesen aufgegangen?
Aigner: Absolut, man denke nur an die vielen „offenen Daten“. Gerade jetzt in der Pandemie sieht man, wie Wissenschaftler rund um die Welt ihre Daten quasi in Echtzeit teilen. Erkenntnisse über neue Virusvarianten stehen sofort global zur Verfügung. Technische Neuerungen waren historisch immer ambivalent. „Fake News“ gab es schon im Mittelalter. Auch die Impfskeptiker tauchten bereits im 19. Jahrhundert auf. Das Problem heute ist die unglaubliche Geschwindigkeit der Informationsflüsse.
Das birgt Gefahren, darf Innovation aber nicht verhindern.

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