"... treibt uns dem Leben in die Arme"

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Lyrik ist nicht gerade "in". Wer liest in unserer vom Fernsehen so stark dominierten Zeit schon Gedichte? Und: Was würde es auch bringen? Genau dieser Frage geht das folgende Interview mit Reiner Kunze nach. Nicht nur aus seiner Erfahrung in der DDR weiß er, wie sehr wahre Poesie das Leben von Menschen erhellen und verändern kann.

Die Furche: Warum ist Verliebten oft nach Dichten zumute?

Reiner Kunze: Die Sprache, deren wir uns sonst bedienen, ist uns plötzlich zu eng über der Brust.

Die Furche: "Deine Augen glänzen wie Sterne" - der Liebende versucht, das Unaussprechliche, das sein Herz bewegt, in Worte zu fassen. Was hat er davon?

Kunze: Er glaubt, das Gefühl, das ihn überwältigt hat, bewältigen zu können, indem er für das Außergewöhnliche, das in ihm vorgeht, einen nach seiner Meinung außergewöhnlichen Ausdruck findet. Das ist das eine, was er davon hat oder zu haben scheint. Das andere ist die Annahme, das Unaussprechliche dann aussprechen und den Menschen, in den er verliebt ist, von der Intensität seiner Empfindungen überzeugen zu können. Mit "Dichten" hat das allerdings nichts zu tun.

Die Furche: Warum nicht?

Kunze: Einfach weil ein starkes Gefühl allein niemanden zum Dichter werden läßt, und weil weder abgestandene, bildhafte Ausdrücke, noch bloße Formelemente wie strenger Rhythmus, Zeilenbruch, Reim usw. einen Text zum Gedicht machen.

Die Furche: Was dann?

Kunze: Daß er der Welt eine noch nie dagewesene Vorstellung von ihr hinzufügt - eine, die aus Banalem besteht, das ins Unerhörte gewendet ist. Lassen Sie mich an dem Faden-Ende anknüpfen, das Sie mir hingehalten haben: Deine Augen glänzen wie Sterne. Das ist gewiß keine nie dagewesene Vorstellung von der Welt, und nichts ist an diesem Vergleich unerhört. Dagegen fragt der spanische Dichter Juan Ramón Jiménez in einem seiner Gedichte die Sterne: "Seid ihr Augen von toten Freunden? / - Ihr blickt so starr! - / Seid ihr Augen von toten Freunden, / die der Erde gedenken... / bei Einzug des Frühlings?" Auch Jiménez spricht von Augen und Sternen, aber bei ihm wendet sich die Vorstellung ins Unerhörte, Niegedachte: Die starr blickenden Sterne könnten die Augen von toten Freunden sein, die der Erde gedenken bei Einzug des Frühlings. Diese Vorstellung erinnert uns auf nie dagewesene Weise an unsere Vergänglichkeit und treibt uns dem Leben in die Arme. Das ist Poesie.

Die Furche: Gedichte zu lesen gilt vielen als luxuriöser Zeitvertreib schwärmerisch veranlagter Menschen. Für den, der sich im Alltag bewähren muss, scheint das nichts zu sein. Oder?

Kunze: Wer das denkt, weiß nicht, was das ist, ein Gedicht, oder was es sein kann. In Diktaturen hat man sich Gedichte wie Kassiber weitergegeben. Die Poesie wäre nie entstanden und hätte nicht Jahrtausende überdauert, wäre sie nicht notwendig. Wenn viele Menschen das Gedicht zum Leben - zu ihrem Leben - nicht brauchen, heißt das nicht, daß das Leben nicht das Gedicht braucht.

Die Furche: Soll man ein Gedicht, wie man es oft in der Schule lernt, danach fragen, was der Autor sagen will?

Kunze: Robert Schumann soll gefragt worden sein, was denn Sinn des eben gehörten Klavierstückes sei. Er habe geantwortet, das könne er genau sagen, sei zum Klavier gegangen und habe das Stück noch einmal gespielt. Das Gedicht ist ein Stück neuer Wirklichkeit wie ein Klavierstück oder eine Skulptur. Es ist ein Bildwerk aus Sprache, das man auf sich wirken lassen muß. Vielleicht wird man dann staunen und ergriffen, beglückt oder erschüttert sein. Vielleicht wird es uns aber auch nicht beeindrucken, was am Gedicht wie an uns selbst liegen kann.

Die Furche: Ein Gedicht interpretieren, was heißt das?

Kunze: Das kommt darauf an, was mich veranlaßt, über ein Gedicht nachzudenken. Keinesfalls darf es heißen, das Gedicht zusammenfassen zu wollen. Es läßt sich ebenso wenig zusammenfassen wie eine Melodie oder ein Gemälde. Ein Gedicht zu interpretieren darf ebenfalls nicht heißen, es auf eine Idee zu reduzieren oder diese sogar in das Gedicht hineinzudenken, weil man meint, man dürfe sich erst dann für oder gegen einen Text aussprechen, wenn man der "Aussage" habhaft geworden ist. So rezipieren Ideologen und Zensoren Poesie. Ein Gedicht zu interpretieren heißt, es sich umfassend zu erschließen.

Die Furche: Warum finden wir heute so schwer Zugang zur Bildsprache von Gedichten?

Kunze: Eine der Ursachen ist das fertige Bild, das uns von kleinauf vorgeflimmert wird. Das schöpferische Bildvorstellungsvermögen wird nicht mehr gefordert und nekrotisiert. Wenn ich Lehrern glauben darf, ist ein Teil der deutschen Realschüler nicht einmal mehr fähig, ein Gedicht zu lesen, es rein sprachlich aufzunehmen.

Die Furche: Wie kann man die Fähigkeit, ein Kunstwerk aufzunehmen trainieren?

Kunze: Der Rat ist Jahrhunderte alt: So oft wie möglich ein wirkliches Gedicht lesen, den Blick auf ein gutes Bild werfen, bewußt eine unvergängliche Musik hören...

Die Furche: Was können Gedichte oder andere Kunstwerke bei dem bewirken, der sie auf sich wirken lässt?

Kunze: Bei Dylan Thomas heißt es, die Welt sei nicht mehr das, was sie war, wenn sie um ein gutes Gedicht vermehrt worden ist. Auch wir sind nicht mehr das, was wir waren, wenn unsere innere Welt um ein gutes Gedicht vermehrt wurde. Große Poesie, große Kunst lebt von großen und aufrichtigen Gefühlen, die ihre Abdrücke in uns hinterlassen. Wer sich großen Kunstwerken aussetzt, wird aus der Begegnung um ein Unmerkliches verändert hervorgehen.

Die Furche: Wie gebildet muss man sein, um Gedichte zu verstehen?

Kunze: Verstehen könnte wieder als rein gedankliches Erfassen mißverstanden werden, und darum geht es nicht. Wer nur selten und nur oberflächlich Berührung mit Gedichten hatte oder über keine "Antenne" für Poesie verfügt, wird kaum etwas mit Gedichten anfangen können, sei er auch noch so gebildet. Es kommt, wie gesagt, auf das Zusammenleben von Leser und Gedicht an. Wenn sich dann noch Wissen hinzugesellt, werden auch die dichterischen Burgen ihre Zugbrücken herablassen.

Die Furche: Sie haben einmal gesagt, Sie seien jeden Morgen dankbar für das Erwachen, wüssten aber nicht, wem. Versuchen Sie, dem, dem sie danken, auf die Spur zu kommen?

Kunze: Mein tschechischer Kollege Jan Skácel schrieb mir einmal: "Es gibt Schleier, die wir nicht ungestraft berühren."

Das Gespräch führte Michael Ragg.

Hilfsschlosser als Dichter

Reiner Kunze wurde am 16. August 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge geboren. 1977 übersiedelte der Schriftsteller aus der DDR nach Obernzell bei Passau. Im selben Jahr wird er Büchner- und Trakl-Preisträger. Wegen ihrer Sprengkraft hatten ihm seine Gedichte in der DDR schwere politische Angriffe und Bespitzelung eingetragen. Er musste die Universität verlassen und als Hilfsschlosser im Maschinenbau arbeiten. Mit seinem letzten Werk "Der Kuß der Koi" hat Kunze, einer der bedeutendsten Lyriker unserer Zeit, auch als Fotograf Anerkennung gefunden. Bei S. Fischer ist 2001 die Dünndruckausgabe all seiner bisherigen Werke erschienen. 2002 zeichnete der Freistaat Bayern Kunze für "herausragende Leistungen" mit dem renommiertesten Orden des Landes, dem Maximiliansorden, aus.

Auf Bitten von Reiner Kunze wurden seine Antworten nach den Regeln der alten Rechtschreibung wiedergegeben.

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