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Vermessung von Gehirnfunktionen

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Eine Pionierleistung für die Diagnose schwerwiegender Erkrankungen leistet der Klagenfurter Internist Georg Grimm

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Eine Pionierleistung für die Diagnose schwerwiegender Erkrankungen leistet der Klagenfurter Internist Georg Grimm

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Da kaum Parameter existieren, mit denen der Zustand des Gehirnes ausreichend erfaßt werden kann, achtete man bislang hei der Diagnose, insbesondere von Intensiv-jatienten, relativ wenig auf die Rol-e der Gehirnfunktionen. Um hier Abhilfe zu schaffen, machte sich Georg Grimm die Methode der evozierten Potentiale zunutze. Das sind bioelektrische Signale des zentralen Nervensystemes, die in zeitlichem Kontext zu einem sensorischen, akustischen oder optischen Nervenreiz gemessen werden.

Es entsteht eine signifikante Kurvenform, deren einzelne Ausschläge )räzise meßbar sind. Als erster Cennwert ergibt sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Impulses, die bei der Untersuchung von metabolischen Hirnfunktionsstörungen eine wesentliche Aussage über den Funktionszustand der vertikalen Neuroachse ermöglicht. Denn „aufgrund des Naturgesetzes des regelhaften Ablaufes von Stoffwechselerkrankungen erhält man weitgehend fixe Reaktionsmuster, die sich abhängig von der Art der Erkrankung aus dem Verlauf der evozierten Potentiale ablesen lassen", erläutert Grimm und fügt hinzu: „Das Besondere daran ist, daß diese Meßwerte im Gegensatz zu den EEG-Signalen zum Teil völlig unabhängig von der Vigilanz (Wachheit) und Sedierung (medikamentöse Ruhigstellung) des Patienten sind."

Die Zuverlässigkeit der Methode konnte Grimm zunächst anhand der Kupferspeichererkrankung „Morbus Wilson' unter Beweis stellen. Bei dieser Erkrankung karm das Kupfer nicht ausgeschieden werden, es bleibt im Blut zurück, dringt in das Gehirn ein und zerstört die Nervenbahnen, wodurch sich auch die somato-senso-rischen Potentiale ändern. Ohne eine rechtzeitige Diagnose und Behandlung stirbt die überwiegende Anzahl der Patienten. Im Rahmen einer Studie, konnte sein Team erstmals in einem frühen Stadium dieser Erkrankung quantitative Aussagen über das Ausmaß der Nervenschädigung treffen und den Erfolg einer therapeutischen Behandlung nachweisen. „Wenn wir heute einen Patienten untersuchen, können wir sehr präzise feststellen, in welchem Stadium der Krankheit er sich befindet und in welchem er in 20 Jahren sein wird, sofern er die lebensnotwendige Dauermedikation weiter nimmt", faßt Grimm den Erfolg seiner Arbeit zusammen, die auch durch eine Publikation im „Lancet" internationale Anerkennung fand.

Mit der Diagnose der Gehim-funktionen von reanimierten Intensivpatienten nahm Grimm ein weiteres Projekt in Angriff, das ebenfalls große Aufmerksamkeit erregte. „Mit unserer Methode lassen sich", so behauptet der Intensivmediziner, „wesentlich früher als selbst ein routinierter Arzt es kann, die Überlebens-Chancen nach einem Herzstillstand prognostizieren". Für diese Voraussage wird allerdings nicht die unmittelbare Übertragungsgeschwindigkeit des „cerviko-cortikalen" Signales betrachtet, sondern der gesamte Verlauf der Kurve, der Aufschluß über die Verarbeitung des Reizes im Gehirn gibt. Diese Ausschläge sind dementsprechend nicht mehr einer einzigen Nervenbahn zuzuordnen, sondern das Resultat komplexer Horizontal- imd Vertikalschaltungen des Gehirns.

FINGERABDRUCK DER GEDANKEN

Insgesamt wurden 66 Intensivpatienten zwei Tage nach einem Herzstillstand untersucht, zu einem Zeitpunkt, an dem bisher keine klinische Aussage über die Überlebenschancen getroffen werden konnte. Und die Forscher identifizierten mit ihrer Methode jene 17 Patienten, die die Reanimation gut überstanden, obwohl sie zum Teil erst nach drei Wochen aus dem Koma erwachten und die Intensivstation mit einer positiven Prognose verlassen konnten. „Das ist meines Erachtens doch eine gewaltige Sache", weist Grimm auf den Wert seiner Methode hin, dämpft jedoch seinen Enthusiasmus hinsichtlich der Diagnose bei aussichtsloseren Patienten: „Hier sind wir extrem zurückhaltend, eine Empfehlung abzugeben."

SchUeßlich konnte Grimm die Aussagekraft der evozierten Potentiale durch die Messung der kognitiven Potentiale (EP) nochmals beträchtlich erweitern. Diese werden nicht durch einen direkten Nervenreiz ausgelöst, sondern durch ein sogenanntes „Aha"-Erlebnis beim korrekten Lösen einer Denkaufgabe. Es bildet sich eine Kurve, die so komplexe Gehimfunktionen wie die Stimulusevaluierung; das Erkennen, die Vigilanz oder das Erfassen von Zahlenspannen beschreibt. „Dieser Parameter ist ein Maß für die Kognitionen, die höchste Gehirnfunktion des Menschen. Es ist, als könnte man geradezu sehen wie der Betreffende denkt", beschreibt Georg Grimm diesen faszinierenden Fingerabdruck der Gedanken.

Auch hier ergaben sich eine Reihe von klinischen Fragestellungen, bei denen diese Methode erfolgreich eingesetzt werden konnte. So zeigte sich bei Patienten mit chronischem Sauerstoffmangel, wie Lungenkranken oder Asthmatikern, daß geringe Sauerstoffwerte im Blut negative Auswirkungen auf die Nervenlei-tungswerte und damit die Denkfle-xibilität der Betroffenen haben, die jedoch durch eine kurzzeitige Sauerstoffzufuhr nachhaltig gebessert werden können. Ebenso eröffneten sich für die Zuckerkrankheit (Diabetes Mellitus, Typ 1) und die durch Blutarmut bedingte Niereninsuffizienz neue Diagnose- und Therapiemöglichkeiten.

In Anbetracht der Fülle von Anwendungsgebieten hofft Grimm, daß seine Methode bald viele Ärzte zu Experten für die Diagnose von Hirnfunktionen machen wird.

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