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Vom Baby- zum Seniorenboom

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Europa ist anders. Gebannt vom enormen Anstieg der Weltbevölkerung seit 1900 übersieht man den dramatischen Geburteneinbruch in Europa.

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Europa ist anders. Gebannt vom enormen Anstieg der Weltbevölkerung seit 1900 übersieht man den dramatischen Geburteneinbruch in Europa.

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Fast viermal so viele Einwohner wie im Jahr 1900 zählt die Erde heute: 5,8 im Vergleich zu 1,6 Milliar den. Im Bewußtsein der Menschen hat sich dieses außergewöhnliche Faktum tief eingegraben. Es wird als existentielle Be-drohung empfunden. Die Begriffe Bevölkerungsexplosion, Bevölkerungsbombe drücken es aus. Wachstumsphasen gab es auch früher: 25 Prozent im 16., 17. und 18. Jahrhundert, im 19. sogar 71 Prozent. Aber was ist das schon im Vergleich zur Entwicklung in unserem Jahrhundert!

Sie ist eine Folge des medizinischen und technischen Fortschritts. Er hat eine enorme Steigerung der Lebenserwartung gebracht Lag diese seit Jahrtausenden (etwa im Römischen Reich) und in Europa bis ins 19. Jahrhundert bei 35 bis 40 Jahren, so hat sie heute etwa in Osterreich bei Frauen Werte von 80, bei Männern von 73,5 Jahren erreicht. Es kam zu massiven Rückgängen der Kindersterblichkeit (noch im 18. Jahrhundert starb jeder vierte Säugling, heute nur einer von 100) und zur Eindämmung der Kinderkrankheiten (früher erreichten nur drei von vier Kindern das 20. Lebensjahr, heute fast alle). Chirurgie, wirksame Medikamente, 1 Iygiene tragen zur Lebensverlängerung bei. Weltweit mehr oder weniger verbreitet führen diese Fortschritte zum eindrucksvollen Wachsen der Weltbevölkerung.

Diese einmalige Entwicklung verdeckt die Tatsache, daß in den Industrieländern längst eine neue Situation eingetreten ist. Seit den siebziger Jahren reichen die Geburtenzahlen nicht mehr, um das Bevölkerungsniveau konstant zu halten. Im Vorjahr ist beispielsweise in Österreich die Geburtenfreudigkeit so weit gesunken, daß auf 100 Frauen im gebärfähigen Alter nur mehr 68 Mädchen kommen. Bliebe dieser Zustand erhalten, ergäbe das ein Schrumpfen der Bevölkerung um ein Drittel von Generation zu Generation.

Eigentlich ist das eine alarmierende Zahl. Erstaunlich, daß sie in einer Zeit, in der geringfügige Schwankun -gen des Wirtschaftswachstums, der Nächtigungszahlen im Fremdenverkehr oder der Währungsrelationen zu größten Sorgen Anlaß geben, die Perspektive eines Einbruchs der Bevölkerung nicht einmal wahrgenommen wird. Wie kommt das?

Die weiterhin steigende Lebenserwartung und die Zuwanderung überdecken das Phänomen. Berechnungen des französischen Demographen Jean Bourgeois-Pichat machen allerdings deutlich, wohin sich Europa entwickelt, wenn die derzeit in Deutschland vorherrschende Geburtenfreudigkeit sich auf ganz Europa ausweiten sollte (wovon die meisten Länder nicht allzu weit entfernt sind; Italien, Spanien, Griechenland haben sogar niedrigere Werte): Dank steigender Lebenserwartung stünden die nächsten 25 Jahre noch im Zeichen geringen Wachstums (jedoch auch einer massiven Uberalterung, siehe Seite 20). 2025 sollte Europa einen I Iöchst-wert von 1,3 Milliarden Einwohnern erreichen. Bis Ende des nächsten Jahrhunderts würde sich dieser Wert allerdings fast halbieren.

Keine Spur also von Bevölkerungsexplosion. Vor uns steht die Vergreisung und der langsame Selbstmord Europas, eine Welt (fast) ohne Kinder. Dies meinte jedenfalls 1989 der damalige französische Ministerpräsident Michel Rocard: „Die meisten Staaten Westeuropas sind dabei, Selbstmord -Selbstmord über die Demographie -zu begehen, ohne es überhaupt zu merken." (Das hat ihn übrigens nicht dazu veranlaßt, eine familienfreundliche Politik zu forcieren.)

Diese unbemerkte Revolution ist Folge eines Sieges über die PVucht-barkeit, so wie das Bevölkerungswachstum dem Sieg über die Sterblichkeit folgte. Seit Mitte der sechziger Jahre haben perfektionierte Verhütungsmethoden (insbesondere die „Pille") und die legalisierte Abtreibung (das bevorzugte Mittel vor allem in Osteuropa) das Instrumentarium zur Beherrschung der Fruchtbarkeit in die Hand gegeben.

Wie sehr die Verhütungstechniken für die Entwicklung verantwortlich sind, erkennt man daran, daß der Geburtenrückgang in Italien, Portugal und Spanien erst mit Verzögerung im Vergleich zu Deutschland, Schweden oder England eingetreten ist, weil diese Techniken in Südeuropa ebenfalls erst mit Verzögerung, aber umso vehementer ihren Einzug gehalten haben.

Das Ergebnis war unter anderem eine veränderte Einstellung zum Kind. Das Wunschkind wurde zur Norm. Zur Welt kommen sollen heute nur Kinder, die sich die Eltern wünschen. Zweifellos waren vor der effizienten Verhütung sicher nicht alle Kinder ersehnt. Sie wurden aber - sobald sie einmal da waren - angenommen und mehr oder weniger geliebt, wie die ersehnten auch.

Heute aber muß ein Kind gewollt, ja programmiert sein, um zur Welt zu kommen. Und dieser Wille muß -weil man ja relativ problemlos abtreiben kann - mehrere Monate hindurch aufrecht erhalten werden. Die Kinder eines Augenblickswunsches und des „Zufalls" kommen nicht mehr zur Welt, Verhütungspannen werden „saniert". Der Nachwuchs Gegenstand der Lebensplanung.

Kinder müssen in den Lebensentwurf der Eltern passen, sie unterliegen in gewisser Hinsicht einer Kosten-Nutzen-Analyse, treten in Konkurrenz zu anderen Lebenszielen -und ziehen dabei allzu oft den kürzeren in einer Gesellschaft, die den Grad der Lebenserfüllung an der Karriere und am Konsumstandard mißt.

Der überhandnehmende Ökonomismus ist kinderfeindlich. Er betrachtet die Welt als Schlachtfeld, auf dem der Durchsetzungsfähige Sieger bleibt. Der Mitmensch - auch das Kind - wird zum Konkurrenten um Lebenschancen, das Leben zum Wettrennen um den Erfolg. Heute gilt es, ihn zu erzielen, spätestens morgen. Die Bilanz des laufenden Jahres hat Vorrang, die Börsenkurse von heute sind der Maßstab. In dieses Denken passen Kinder nicht. Da wirken sie störend.

Denn sie sind Langfristprojekte, brauchen Jahrzehnte, um zu Persönlichkeiten heranzureifen, Kontinuität, brauchen Wiederholung, Ruhe, Geborgenheit - und Unbedingt -heit. Man wird Person, insofern man die Erfahrung macht, daß man wert1 voll und besonders ist. Dies geschieht nicht in der Krabbelstube, im Tagesheim oder an der Massenuni, sondern in der täglich erfahrenen, unbedingten Zuwendung der Eltern.

Sie sollte nicht abhängig von der Bravheit, Schönheit oder Leistungsstärke der Kinder sein, sondern einfach nur deren Dasein zu verdanken. „Es ist gut, daß es dich gibt! Ich stehe zu dir!": Um das zu erfahren, bedarf es der Kontinuität in Beziehungen. Gerade sie ist aber in einer Welt, die dem einzelnen Mobilität, Flexibilität und Berufsorientierung verordnet, kaum durchzuhalten. In eine instabile, berufsorientierte, ichbezogene Welt passen Kinder nicht wirklich.

Somit erscheint der sich abzeichnende schleichende Selbstmord Europas als eine fundamentale Anfrage an das Wertesystem, das uns derzeit vorantreibt. Eine Welt, in die Kinder nicht mehr so recht passen, ist nämlich auch für Erwachsene nicht zuträglich.

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