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Von der Donau zur Weichsel

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„Sie werden schneller an der Grenze sein, als wir von Schönbrunn zum Ring Zeit benötigen“, sagt der Fahrer des Wagens und schimpft gedämpft über den starken Mittagsverkehr auf den Wiener Straßen vor sich hin. Nun, wirklich, wir brauchten trotz allen Kniffen von Schönbrunn bis zum Opernring, wo gewöhnlich die Passagiere der „Austrian Airlines“ abgefertigt werden, ehe sie zum Flughafen nach Schwechat mit dem Wagen weiterfahren, fast zehn Minuten. „Vier Fünftel dieser Zeit, also rund acht Minuten, dauert es nur“, so sagt man mir auf dem Wege nach dem Osten der Stadt, „bis man die Grenze überfliegt. Aber von dieser werden Sie nichts merken.“ Und so ist es auch an diesem ungewöhnlich milden Wintertag mit seiner wärmenden Sonne und dem für Wien in dieser Jahreszeit ungewöhnlichen wolkenlosen Himmel, der den Abschied von der Donau leicht macht. Leicht hebt sich die Turbopropmaschine von der Startbahn, und ehe man sich auch nur halbwegs richtig hingesetzt und umgeschaut hat, ist schon der Silberstreif der Donau im Süden verschwunden. Was Fluß und Berg, wird zum theoretischen Begriff, und vergebens versucht man, die historischen Orte Dürnkrut und Jedenspeigen oder wenigstens die doch immerhin bis fast zu fünfhundert Metern aufsteigenden Leiser Berge auszumachen. Hug-reisen ist eben etwas anderes als Autofahren, wo man mitten in den Siedlungen die Zuordnung und den Zweck der Verkehrswege bemerkt, oder Eisenbahnfahren, wo der Schienenstrang zu einer Linie wird, welche die Landschaft durchschneidet, wo das Urteil über sie zumeist vom Wagenfenster und vom Bahnhof aus geprägt wird. Dort, beim Auto, und hier, bei der Bahn, ein begrenzter Horizont. „Das alte Europa“, sagt man gewöhnlich im Navigationsraum dazu. „Das neue Europa“ ist der Erdteil, dessen Anrieht vom Turboprop- und Düsenflugzeug aus sich zusammensetzt. Die Flugreisen haben einen weiten Horizont, und man wünschte diesen auch den Staatsmännern der Großen.

Der Laie glaubt — und wir haben es auch bis zu diesem Tag so gehalten —, daß die Verbindung zwischen zwei Orten, getreu nach dem mathematisch-geometrischen Axiom, auch baim Flugverkehr mit der Linie, dem Strich entlang eines biegsamen Vermessungslineals erfolgt. Aber so ist das nicht. Sehen wir nur von den jeweils möglicherweise auftretenden Witterungsbedingungen ab; auch die Luft hat Straßen, wenn man will, Kanäle. So folgt unsere Vickers-Vis-count nicht dem Lineal, sondern beschreibt eine sanfte Kurve. Aber auch das ist nur an Hand der Karte und an den Instrumenten zu bemerken. Für den Durchschnittspassagier gleitet unter ihm eine etwas vergrößerte Landkarte vorbei, zuweilen mit niedlichen weißen Flocken übertupft — das sind neutrale Wölkchen über der Tschechoslowakei. Neutral in dem Sinne natürlich, daß sie keine Wetterverschlechterung bringen.

Aber was kann das Wetter schon überhaupt ausmachen? Man darf sich nicht von der Luftstrecke, die, mit dem Lineal gemessen, von Wien nach Warschau rund 570 Kilometer zählt, ins Bockshorn jagen lassen und mit irdischen Maßstäben denken, was einem alles auf einer Autofahrt dieser Länge heute zustoßen kann. 570 Kilometer — das ist ein rechnerischer Begriff. Real ist der Fahrplan. Und der Fahrplan weist als Fahrtdauer nach Warschau nur eine Stunde und fünfundvierzig Minuten aus. Wer mittags in Wien startet, kann noch am selben Abend wieder zurück sein.

Ja, was denn die.se Vickers, die sich als „Turboprop“-Maschine ausgibt, ist, wollen wir in der Gegend der polnisch-oberschlesischen Platte wissen. Nun: die Abgase der Triebwerke wirken bei dieser Maschine ähnlich wie beim reinen Strahlentriebwerk und werden zum Antrieb verwendet. Diese Maschinen sind beim Flugpublikum überaus beliebt, und die „Austrian-Airlines“ haben einen richtigen Griff getan, den Typ Vickers-Viscount 779 D zu wählen. Die Maschinen sind überaus schnell — rund 500 Stundenkilometer —, zeigen eine sehr geringe Lärmentwicklung (was der geplagte Großstädter wirklich zu schätzen weiß) und sind erheblich vibrationsfrei. Daß die Maschinen große Fenster haben, ist nicht der letzte Dienst der Fluggesellschaft; denn wenn man auch nur so über drei europäische Länder dahinflitzt, sehen will man doch auch etwas und nicht etwa in die Rolle eines Schiffslukenmieters abgleiten. Der Fassungsraum einer Vickers-Vis-count wird uns mit 48 Passagieren angegeben. Wenn man uns nicht die durchschnittliche Flughöhe angegeben hätte, wir hätten uns beträchtlich verschätzt: es sind 6000 bis 8000 Meter. Und der Sprit wird bis Warschau reichen. Denn wir könnten ohne Zwischenlandung noch über Warschau weiter nach Moskau fliegen.

Die Flugreisen sind nicht mehr Privileg begüterter Klassen. Beispiel: die Arrangements während des Sommers, wo die Anreisezeit zum Urlaubsort zugunsten der Erholungszeit unerhört verkürzt wird und von den Reisebüros gerne angeboten werden. Nach Warschau kostet der einfache Flug 1300 Schilling, die Rückfahrkarte 2340 Schilling. Die „Austrian Airlines“ haben ihren Fahrplan so geschickt eingerichtet, daß man über Wien nach Warschau von Paris-Le Bourget über Stuttgart, von Frankfurt am Main über München, von London über München und von Zürich her leicht Anschluß gewinnt. Die Männer unserer Luftverkehrsgesellschaft weisen mit Recht auf die zufriedenstellende Auslastung des Betriebes hin. Seit dem 31. März, als der Betrieb aufgenommen wurde, hat man sechs Linien im Fahrplan; ihre Streckenlänge beträgt 11.559 km. Wie bei der Flughöhe hätten wir uns, da wir nach der Zahl der Angestellten fragen — schon blickt rechtsab die Weichsel auf — stark verschätzt. Es gibt bei den „Austrian Airlines“ 270 Angestellte und Arbeiter, davon 200 im Flugbetrieb, technischen und Stationsdienst. Das fliegende Personal beträgt 23 Flugkapitäne und Piloten sowie jene 17 Stewardessen, die unserer Fluggesell schaff die Beifügung „Freundliche Luftlinie“ versthafften. Für die ersten sieben Monate des Betriebes werden 22.146 Fluggäste, 100.000 kg Fracht, 27.000 kg Post bei 1943 Flügen mit einer Gesamtlänge von 1,9 Millionen Kilometer registriert. Es ist hervorzuheben, und bei allem Ringsumschauen soll man doch nicht vergessen, hinzuhören, wenn ein Fachmann darauf hinweist, daß 55 Prozent aller Beförderungsleistungen auf die Strecken ab Wien, 45 Prozent auf die in Wien endenden Linien entfallen, also die Linienführung einem echten Volksbedarf nachkommt.

Wien—Warschau: das ist ein Anknüpfen an historische Vorwege. Denn die erste kursmäßige Flugverbindung in Europa hat Oesterreich nach Osten auf der Route Wien—Krakau-Lemberg-Kiew eröffnet. Nach Osten aus dem Westen, vom Osten nach dem Westen: aufs Jahr genau vor vierzig Jahren. Wer hätte damals gedadjt., daß man in einer Stunde 45 Minuten nach Warschau fliegen wird!

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